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Wenn Ich Bleibe

Titel: Wenn Ich Bleibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gayle Forman
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herausgefunden habe, wie ich loslassen kann.
    Ich liege noch keine Viertelstunde in meinem Bett, als Willow auftaucht. Sie marschiert durch die Tür und geht geradewegs zu der Oberschwester, die hinter ihrem Schreibtisch sitzt. Ich kann nicht verstehen, was sie sagt, aber ich höre ihren Ton: Er ist höflich, sanft, lässt aber keinen Widerspruch zu. Als sie ein paar Minuten später
wieder geht, hat sich die Atmosphäre verändert. Willow hat das Kommando übernommen. Die mürrische Schwester schaut zunächst säuerlich drein, nach dem Motto: Was denkt sich diese Frau eigentlich, dass sie mir Vorschriften machen will? Aber dann scheint sie zu resignieren, scheint sich in ihr Schicksal zu fügen. Es war eine verrückte Nacht. Ihre Schicht ist fast vorbei. Warum sich aufregen? Schon bald wird jemand anders die Verantwortung für mich und all meine lärmenden und drängenden Besucher übernehmen.
    Fünf Minuten später kommt Willow wieder und bringt meine Großmutter und Gramps mit. Willow hat den ganzen Tag gearbeitet, und jetzt ist sie schon die halbe Nacht hier. Ich weiß, dass sie selbst an guten Tagen nicht genug Schlaf bekommt. Ich habe schon öfters gehört, wie meine Mutter ihr Tipps dazu gegeben hat, wie sie das Baby nachts beruhigen kann.
    Ich bin nicht sicher, wer schlimmer aussieht, Gramps oder ich. Seine Wangen sind eingefallen, seine Haut sieht grau aus und dünn wie Papier, und seine Augen sind blutunterlaufen. Meine Großmutter andererseits sieht aus wie immer. Sie wirkt nicht im Mindesten abgespannt. Es ist, als ob die Erschöpfung es nicht wagen würde, Spuren auf ihr zu hinterlassen. Sie stapft geradewegs zu meinem Bett.
    »Du hast uns heute einen ganz schön aufregenden Tag beschert«, sagt meine Großmutter leichthin. »Deine Mutter sagte immer, sie könnte nicht fassen, was
für ein pflegeleichtes Kind du bist, und ich meinte daraufhin nur: ›Wart’s ab, bis sie in die Pubertät kommt.‹ Aber du hast mich Lügen gestraft. Selbst dann warst du so ein unkompliziertes Mädchen. Hast uns nie Ärger gemacht. Ich habe niemals Herzklopfen gehabt aus Angst, dir könnte was passieren. Aber das, was du heute angestellt hast, reicht für ein ganzes Leben.«
    »Aber, aber«, sagte Gramps und legte ihr die Hand auf die Schulter.
    »Ach, ich mache ja nur Spaß. Mia würde das verstehen. Sie hat einen ausgeprägten Sinn für Humor, egal, wie ernst die Situation auch sein mag. Einen trockenen Humor hat die Kleine.«
    Meine Großmutter zieht sich einen Stuhl herbei, setzt sich neben mein Bett und kämmt mir mit ihren Fingern durchs Haar. Jemand hat es ausgespült, sodass es nicht mehr blutverklebt ist, wenn auch nicht wirklich sauber. Meine Großmutter fängt an, mir den Pony zu entwirren, der im Augenblick fast kinnlang ist. Ich lasse ihn mir ständig wachsen, dann wieder abschneiden, dann wieder wachsen. Zu mehr Veränderung an meinem Äußeren kann ich mich nicht durchringen. Sie arbeitet sich vorsichtig durch meine Haare, zieht meine Strähnen unter meinem Kopf hervor, sodass sie über meine Brust fallen und etwas von den Kabeln und Schläuchen verdecken, die in meinem Körper stecken. »So, das ist schon viel besser«, sagt sie. »Weißt du, ich bin heute draußen gewesen und habe einen Spaziergang
gemacht. Du wirst nie erraten, was ich gesehen habe. Einen Kreuzschnabel. In Portland, im Februar. Das ist sehr ungewöhnlich. Ich glaube, es ist Glo. Sie hat dich schon immer gemocht. Sie meinte, du erinnerst sie an deinen Vater, den sie vergötterte. Als er sich das erste Mal einen Irokesenschnitt verpassen ließ, hat sie eine Party für ihn veranstaltet. Sie liebte es, dass er so rebellisch war, so anders. Sie hatte keine Ahnung, dass dein Vater sie nicht ausstehen konnte. Sie kam uns einmal besuchen, als dein Vater fünf oder sechs Jahre alt war, und sie hatte diesen mottenzerfressenen Nerzmantel dabei. Das war, bevor sie eine vehemente Tierschützerin wurde und aus Kristallkugeln die Zukunft voraussagte. Der Mantel roch schrecklich nach Mottenkugeln, wie die alten Leintücher, die wir auf dem Dachboden in einer Truhe aufbewahrten, und dein Vater nannte sie von da an nur noch »Tante Truhengestank«. Sie hat nie davon erfahren. Aber es gefiel ihr, dass er gegen uns rebellierte, zumindest dachte sie, er würde es tun, und sie dachte, dass auch du rebellieren würdest, weil du dich für die klassische Musik entschieden hast. Ich habe ihr zwar immer zu erklären versucht, dass das nicht der Grund dafür war,

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