Wenn Ich Bleibe
Mutter. »Als ich so alt war wie du, habe ich mir mein Begräbnis auf jede erdenkliche Art vorgestellt. Mein Dreckskerl von Vater und all die sogenannten Freunde, die mir Unrecht getan haben, würden über meinen Sarg gebeugt stehen
und weinen. Mein Sarg musste natürlich rot sein, und sie spielten James Taylor.«
»Lass mich raten«, sagte Willow. » Fire and Rain? «
Meine Mutter nickte, und sie und Willow fingen an zu lachen, und schon bald darauf brüllten wir alle vor Lachen, sodass uns die Tränen über die Wangen liefen. Und dann weinten wir, sogar ich, die ich Kerry kaum gekannt hatte. Wir weinten und lachten, lachten und weinten.
»Und heute?«, fragte Adam meine Mutter, nachdem wir uns wieder beruhigt hatten. »Müsste es heute immer noch Mr Taylor sein?«
Meine Mutter hielt inne und blinzelte, was sie immer tut, wenn sie über etwas nachdenkt. Dann streckte sie die Hand aus und strich meinem Vater über die Wange, eine seltene Zurschaustellung von Zuneigung in der Öffentlichkeit. »Heute wäre es mein Wunsch, gemeinsam mit meinem spießigen Gatten einen schnellen Tod zu erleiden, wenn wir neunzig sind. Ich weiß nicht genau, wie. Vielleicht auf einer Safari in Afrika – denn in Zukunft werden wir natürlich stinkreich sein. He, schließlich ist das meine Fantasie. Wir erkranken an einer exotischen Krankheit, schlafen eines Abends zufrieden ein und wachen nie mehr auf. Und kein James Taylor. Mia soll bei unserer Beerdigung spielen. Natürlich nur, wenn sie sich bei dieser Gelegenheit von den New Yorker Philharmonikern losreißen kann.«
Mein Vater irrte sich. Es stimmt, dass man keine Kontrolle über die Gestaltung des eigenen Begräbnisses hat, aber manchmal bekommt man die Möglichkeit, seinen Tod zu wählen. Und ich kann mir nicht helfen. Irgendwie glaube ich, dass der Wunsch meiner Mutter wahr geworden ist. Sie starb gemeinsam mit meinem Vater. Aber ich werde nicht zu ihrer Beerdigung spielen. Es ist durchaus möglich, dass ihr Begräbnis auch das meine sein wird. Aber ich glaube nicht, dass meine Mutter darüber glücklich wäre. Im Gegenteil, ich denke, Mama Bär wäre sehr zornig darüber, wie sich die Ereignisse des heutigen Tages entwickelt haben.
2.48 Uhr
Ich bin wieder zurück. Zurück auf der Intensivstation. Jedenfalls, soweit es meinen Körper betrifft. Ich selbst bin die ganze Zeit hier gewesen, zu erschöpft, um mich zu bewegen. Ich würde so gerne schlafen. Ich wünschte, es gäbe ein Betäubungsmittel für mich oder eine Möglichkeit, die Welt verstummen zu lassen. Ich möchte wie mein Körper sein, still und leblos, wie Modelliermasse in den Händen anderer Menschen. Ich habe nicht die Energie, um diese Entscheidung zu treffen. Nichts davon will ich noch länger ertragen. Ich sage es laut. Ich will nicht mehr. Ich schaue mich um und komme mir etwas lächerlich vor. Ich bezweifle, dass die anderen zerschlagenen und zerbrochenen Patienten den Wunsch verspürt hatten, hier zu landen.
Mein Körper war nicht allzu lange weg. Nur ein paar Stunden. Zuerst für die Operation, dann eine Weile im Aufwachraum. Ich weiß nicht genau, was mit mir passiert ist, und zum ersten Mal heute ist es mir auch ziemlich egal. Ich sollte mich gar nicht damit befassen müssen. Ich sollte mich nicht so anstrengen müssen. Mir kommt in den Sinn, dass sterben leicht ist – leben ist schwer.
Ich hänge wieder an dem Beatmungsgerät, und wieder sind meine Augen mit Klebeband verschlossen. Die Sache mit dem Klebeband verstehe ich immer noch nicht. Haben die Ärzte Angst, dass ich mitten in der Nacht aufwache und mich der Anblick von Blut und Skalpellen in Angst und Schrecken versetzt? Als ob mich so etwas noch schrecken könnte. Zwei Schwestern, Schwester Ramirez und eine andere, der ich als Patientin zugeteilt bin, kommen zu mir und überprüfen die Geräte und Monitore. Sie gehen eine Liste durch, die mir mittlerweile vertraut ist: Herzschlag, Sauerstoffgehalt, Atemfrequenz. Schwester Ramirez scheint jetzt eine ganz andere Frau zu sein als die, die gestern Nachmittag hier ihren Dienst antrat. Ihr Make-up ist fast ganz abgewischt, und ihr Haar ist strähnig geworden. Sie sieht so aus, als könnte sie sich kaum noch aufrecht halten. Ihre Schicht muss längst vorbei sein. Ich werde sie vermissen, aber ich freue mich für sie, dass sie diesen Ort verlassen kann. Dass sie mich verlassen kann. Ich möchte auch gerne bald gehen. Ich glaube, ich werde es tun. Es ist nur eine Frage der Zeit – bis ich
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