Wenn Ich Bleibe
kalten Finger hauchte. »Warum nicht Amazing Grace? Das ist zwar traditionell, aber …«
»Man muss nicht dabei kotzen«, beendete Henry den Satz für ihn. » Three Little Birds von Bob Marley wäre noch besser gewesen, ein Song, der Kerrys Andenken würdig ist. Eine Art Salut für einen tollen Kerl.«
»In diesem Gottesdienst ging es nicht darum, Kerrys Leben zu feiern«, knurrte meine Mutter und zerrte an ihrem Schal. »Es ging darum, sein Leben zurückzuweisen. Mir kommt es so vor, als wäre er eben noch einmal gestorben.«
Mein Vater legte meiner Mutter beruhigend seine Hand auf die geballte Faust. »Na komm. Es war nur ein Lied.«
»Es war nicht nur ein Lied«, fauchte meine Mutter und zog ihre Hand weg. »Es ist das, was dieses Lied repräsentiert. Die ganze Scharade, die dahintersteht. Gerade du solltest das verstehen.«
Mein Vater zuckte mit den Schultern und lächelte traurig. »Vielleicht. Aber ich kann nicht wütend auf seine Familie sein. Ich vermute, dieser Gottesdienst war ihre Art, ihren Sohn wieder für sich zu beanspruchen.«
»Also bitte«, sagte meine Mutter und schüttelte den Kopf. »Wenn sie ihren Sohn für sich in Anspruch nehmen wollen, warum respektieren sie dann nicht das Leben, das er führte? Warum haben sie ihn nie besucht? Oder ihn nie als Musiker unterstützt?«
»Wir wissen nicht, wie sie über all das dachten«, antwortete mein Vater. »Wir sollten nicht so hart über sie urteilen. Es muss herzzerreißend sein, sein Kind begraben zu müssen.«
»Ich kann nicht glauben, dass du sie in Schutz nimmst«, rief meine Mutter aus.
»Das tue ich nicht. Ich denke nur, dass du in die Auswahl der Musik zu viel hineininterpretierst.«
»Und ich denke, dass du Heuchelei und Spießertum mit Mitgefühl verwechselst!«
Mein Vater zuckte kaum merklich zusammen, aber Adam registrierte es und drückte mir die Hand. Auch Henry und Willow wechselten einen Blick. Henry mischte sich ein, wohl um meinem Vater zu Hilfe zu kommen. »Bei deinen Eltern ist es etwas anderes«,
sagte er zu meinem Vater. »Sie sind zwar altmodisch, aber sie haben immer hinter dir gestanden, und sogar in deiner wildesten Zeit warst du immer ein guter Sohn, ein guter Vater. Sonntags bist du immer zum Mittagessen nach Hause gekommen.«
Meine Mutter brach in brüllendes Gelächter aus, als ob Henrys Bemerkung ihre Argumente stützen würde. Als sie unsere erschrockenen Gesichter sah, verstummte sie. »Ich bin einfach ein bisschen überempfindlich«, sagte sie. Mein Vater schien zu begreifen, dass dies die einzige Entschuldigung war, die er erwarten durfte. Er legte seine Hand auf ihre, und diesmal zog sie sie nicht weg.
Mein Vater zögerte kurz, bevor er sprach. »Ich glaube, Beerdigungen sind ganz ähnlich wie der Tod selbst. Du kannst dir wünschen, was du willst, kannst planen, so viel du Lust hat, aber am Ende des Tages liegt es nicht mehr in deiner Hand.«
»Doch«, widersprach Henry. »Wenn man seine Wünsche den richtigen Leuten mitteilt.« Er wandte sich an Willow und richtete seine Worte an ihren dicken Bauch. »Hört mir gut zu, Familie. Bei meiner Beerdigung darf niemand Schwarz tragen. Und was die Musik angeht, will ich was Poppiges, was schön Altmodisches, wie ›Mr T Experience‹.« Er schaute zu Willow hoch. »Verstanden?«
»›Mr T Experience‹. Klarer Fall.«
»Danke. Und was ist mit dir, Liebling?«, fragte er.
Ohne Umschweife antwortete Willow: »Spielt P.S. You Rock My World von den ›Eels‹. Und ich will eins von diesen grünen Begräbnissen, wo man unter einem Baum bestattet wird. Damit alles in Mutter Natur stattfindet. Und keine Blumen. Schenkt mir so viel Blumen, wie ihr wollt, solange ich am Leben bin, aber wenn ich erst tot bin, spendet das Geld lieber einer guten Wohltätigkeitsorganisation wie ›Ärzte ohne Grenzen‹.«
»Du hast dir ja alles schon genau überlegt«, sagte Adam. »Hat das was damit zu tun, dass du Krankenschwester bist?«
Willow zuckte mit den Schultern.
»Laut Kim heißt das, dass du eine vielschichtige Persönlichkeit hast«, sagte ich. »Sie meint, dass die Welt in zwei Gruppen aufgeteilt ist: Die Leute, die sich ihre eigene Beerdigung vorstellen, und diejenigen, die es nicht tun. Ihrer Meinung nach fallen alle klugen und künstlerischen Menschen in die erste Kategorie.«
»Und in welche gehörst du?«
»Ich möchte Mozarts Requiem«, sagte ich. Dann wandte ich mich an meine Eltern. »Keine Sorge. Ich denke nicht an Selbstmord.«
»Ach, komm«, sagte meine
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