Wenn Ich Bleibe
aber es war ihr egal. Sie hatte ihre eigene Vorstellung davon, wie die Dinge lagen. Ich nehme an, das trifft auf uns alle zu.«
Meine Großmutter zwitscherte noch fünf Minuten so weiter, erzählte mir die neusten Neuigkeiten. Heather hat sich entschlossen, Bibliothekarin zu werden.
Mein Cousin Matthew hat sich ein Motorrad gekauft, worüber meine Tante Patricia nicht begeistert ist. Ich habe schon erlebt, wie sie stundenlang so daherplapperte, während sie gleichzeitig das Essen kochte oder Orchideen umpflanzte. Und wenn ich ihr jetzt so zuhöre, kann ich sie beinahe vor mir sehen, wie sie in ihrem Gewächshaus steht, in dem selbst im Winter die Luft warm und feucht ist und etwas modrig riecht, wie Erde, vermischt mit dem leichten Aroma von Dung. Meine Großmutter sammelt noch eigenhändig Kuhscheiße – Kuhfladen sagt sie dazu – und hebt sie unter den Mulch. Daraus entsteht ihr eigener Dünger. Gramps meint, sie solle sich das Rezept patentieren lassen und verkaufen, weil ihre Orchideen, die sie damit düngt, am laufenden Band Preise gewinnen.
Ich versuche, zum Klang der Stimme meiner Großmutter zu meditieren, mich von ihrem unbeschwert scheinenden Geplapper forttragen zu lassen. Wenn ich früher auf dem Hocker an ihrer Arbeitsplatte saß und ihr zuhörte, war ich manchmal kurz davor, einzuschlafen. Ich frage mich, ob es mir heute gelingen würde. Der Schlaf wäre mir unendlich willkommen. Eine warme Decke aus Dunkelheit, die alles auslöscht. Ein Schlaf ohne Träume. Ich habe Leute über den Schlaf der Toten reden hören. Fühlt sich so der Tod an? Wie ein schönes, gemütliches, nie endendes Nickerchen? Wenn es so ist, hätte ich nichts dagegen. Wenn das Sterben nur daraus besteht, könnte der Tod von mir aus kommen.
Ich schrecke hoch. Panik zerstört die Ruhe, die mir die Stimme meiner Großmutter beschert hat. Die Einzelheiten meines Zustandes sind mir immer noch nicht ganz klar, aber eins weiß ich mit Bestimmtheit: Wenn ich mich entscheide zu gehen, dann gehe ich. Aber ich bin noch nicht bereit. Noch nicht. Ich weiß nicht, warum, aber es ist so. Und wenn ich jetzt denke, dass mir ein ewiges Nickerchen nichts ausmachen würde, habe ich Angst, dass es so geschehen wird, dass es unwiderruflich sein wird. Ich muss daran denken, dass meine Großeltern mich früher immer warnten, die Grimassen, die ich um Punkt zwölf Uhr mittags schnitt, würden mein Gesicht unwiderruflich verzerren.
Ich frage mich, ob jeder sterbende Mensch die Gelegenheit bekommt zu entscheiden, ob er gehen oder bleiben möchte. Das kommt mir unwahrscheinlich vor. Immerhin ist dieses Krankenhaus voller Patienten, denen man giftige Chemikalien in die Adern pumpt oder sie entsetzlichen Operationen unterzieht, damit sie bleiben können. Trotzdem werden einige von ihnen sterben.
Konnten meine Eltern sich entscheiden? Ich denke, dass es unmöglich war, dass sie keine Zeit hatten, eine so folgenschwere Entscheidung zu treffen, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich entschieden, mich zurückzulassen. Und was ist mit Teddy? Wollte er bei Mom und Dad sein? Wusste er, dass ich immer noch hier bin? Selbst wenn es so war, kann ich ihm nicht verdenken,
dass er sich entschloss, ihnen zu folgen. Er ist noch klein. Er hatte wahrscheinlich große Angst. Plötzlich stelle ich mir vor, wie einsam und verängstigt er gewesen sein muss, und zum ersten Mal in meinem Leben hoffe ich, dass meine Großmutter mit ihrem Glauben an Engel recht hat. Ich bete, dass sie alle damit beschäftigt waren, Teddy zu trösten, sodass sich keiner von ihnen um mich kümmern konnte.
Warum kann ich die Entscheidung nicht jemand anders überlassen? Warum kann ich nicht eine Vollmacht über mein Leben und Sterben ausstellen? Oder – wie beim Baseball – einen guten Schlagmann nominieren, der den Ball weit übers Feld schickt, damit ich einen Homerun laufen und heimgehen kann?
Meine Großmutter ist fort. Willow ist fort. Auf der Intensivstation ist es friedlich. Ich schließe die Augen. Als ich sie wieder öffne, ist Gramps da. Er weint. Er gibt dabei kaum einen Laut von sich, aber die Tränen strömen ihm über die Wangen. Sein ganzes Gesicht ist nass. Ich habe noch nie jemanden so weinen sehen. Still, aber unerschöpflich, als hätte man einen Wasserhahn hinter seinen Augen aufgedreht. Die Tränen fallen auf meine Bettdecke, auf mein frisch gekämmtes Haar. Platsch. Platsch. Platsch.
Gramps wischt sich nicht über das Gesicht, und er schnäuzt sich auch nicht
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