Wenn Ich Bleibe
die Nase. Er lässt die Tränen einfach dorthin fallen, wohin sie fallen wollen. Und als
der Quell aus Kummer einen Moment lang versiegt, beugt er sich vor und küsst mich auf die Stirn. Es sieht so aus, als wolle er gehen, aber dann kehrt er zu meinem Bett zurück und bückt sich, sodass sein Mund an meinem Ohr liegt. Er flüstert mir etwas zu.
»Es ist in Ordnung«, sagt er zu mir. »Wenn du gehen willst, ist das in Ordnung. Alle wollen, dass du bleibst. Ich will, dass du bleibst, mehr als alles, was ich je gewollt habe.« Seine Stimme bricht. Er verstummt, räuspert sich, holt tief Atem und fährt fort: »Aber das ist mein Wunsch, und ich kann verstehen, wenn es nicht das ist, was du willst. Ich wollte dir nur sagen, dass ich es akzeptiere, wenn du gehst. Es ist in Ordnung, wenn du uns verlassen musst. Es ist in Ordnung, wenn du aufhören willst zu kämpfen.«
Zum ersten Mal, seit ich von Teddys Tod erfahren habe, fühle ich, wie sich etwas in mir löst. Ich fühle, wie ich aufatme. Ich weiß, dass Gramps nicht der Schlagmann ist, auf den ich gehofft habe. Er wird nicht meine Geräte abschalten oder mir eine Überdosis Morphium oder etwas Ähnliches verabreichen. Aber dies ist das erste Mal heute, dass jemand anspricht, was ich verloren habe. Die Sozialarbeiterin hat meine Großeltern gebeten, mich nicht aufzuregen, aber Gramps’ Ehrlichkeit – und die Erlaubnis, die er mir gerade erteilt hat – kommen mir wie ein Geschenk vor.
Gramps lässt mich nicht allein. Er sinkt wieder auf seinen Stuhl. Es ist jetzt still. So still, dass man fast die
Träume der Menschen hören kann. So still, dass man fast hören kann, wie ich Gramps »Danke« zuflüstere.
Als Teddy geboren wurde, spielte mein Vater immer noch Schlagzeug in der gleichen Band wie zu Collegezeiten. Sie hatten ein paar CDs herausgebracht und waren jeden Sommer auf Tournee gegangen. Die Band war kein großer Hit, aber sie hatten eine Fangemeinde im Nordwesten und in verschiedenen Universitätsstädten zwischen hier und Chicago – und merkwürdigerweise auch einen Fanklub in Japan. Die Band bekam ständig Briefe von japanischen Teenagern, die sie anflehten, nach Japan zu kommen und dort Konzerte zu geben. Dabei boten sie ihr eigenes Zuhause als Übernachtungsmöglichkeit an. Mein Vater sagte immer, dass er mich und meine Mutter mitnehmen würde, wenn sie je dorthin fahren würden. Meine Mutter und ich lernten sogar ein paar japanische Wörter, nur für den Fall. Konichiwa. Arigato. Aber es wurde nie etwas daraus.
Nachdem meine Mutter verkündet hatte, dass sie mit Teddy schwanger war, deutete sich ein Wandel an. Das erste Anzeichen dafür war, dass mein Vater den Führerschein machte. Mit dreiunddreißig. Er wollte erst, dass meine Mutter ihm das Fahren beibringt, aber sie war zu ungeduldig, meinte er. Meine Mutter dagegen meinte, dass sich mein Vater jede Form von Kritik sehr zu Herzen nahm. Also fuhr Gramps mit meinem Vater in seinem
Pickup auf die leeren Landstraßen hinaus, wie er es mit seinen anderen Kindern gemacht hatte. Die allerdings hatten das Autofahren mit sechzehn gelernt.
Als Nächstes kam der Umbruch in Sachen Kleidung. Das allerdings bemerkten wir erst gar nicht. Er zog nicht eines Tages einfach seine engen schwarzen Jeans und die T-Shirts mit dem Namenszug seiner Band aus und tauschte sie gegen einen Anzug ein. Die Veränderung kam schleichend. Zunächst landeten die T-Shirts im Altkleidersack. Stattdessen tauchten hochgeschlossene Hemden aus den 1950ern auf, die er in einem Secondhandladen erstand, bis sie in Mode kamen und er sie in einer teuren Boutique kaufen musste. Dann wurden die Jeans in den Müll gestopft, außer einem Paar makelloser dunkelblauer Levi’s, die mein Vater bügelte und am Wochenende trug. An den meisten Tagen trug er ordentliche Hosen mit Bügelfalten und Umschlag. Aber als er ein paar Wochen, nachdem Teddy geboren war, seine Lederjacke weggab – seine geliebte, zerknautschte Motorradjacke mit dem Gürtel aus fusseligem Leopardenkunstfell -, da wurde uns endlich klar, dass eine welterschütternde Umwandlung im Gange war.
»Mann, das kann doch nicht dein Ernst sein«, sagte Henry, als mein Vater ihm die Lederjacke schenkte. »Du hast das Teil, seit du ein Teenie warst. Es riecht sogar nach dir.«
Mein Vater zuckte mit den Schultern und verwarf somit
alle Widerworte. Dann ging er zu Teddy, der in seiner Wiege lag und brüllte.
Ein paar Monate später verkündete mein Vater, dass er die Band
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