Wenn Ich Bleibe
übersehen. Wenn du traurig bist, dann siehst du auch traurig aus.«
»Ich bin nicht traurig. Dein Vater scheint glücklich zu sein, und ich glaube, er wird ein guter Lehrer werden. Die Kinder, die mit deinem Vater Der große Gatsby lesen dürfen, können sich glücklich schätzen. Ich werde einfach nur die Musik vermissen.«
»Die Musik? Du gehst doch nie zu Dads Auftritten.«
»Meine Ohren sind nicht besonders gut. Das kommt vom Krieg. Der Krach tut ihnen weh.«
»Du solltest es mit Ohrenschützern versuchen. Mom besteht drauf, dass ich die Dinger aufsetze. Ohrstöpsel fallen nämlich immer raus.«
»Vielleicht versuche ich das tatsächlich einmal. Aber ich habe mir immer die Musik deines Vaters angehört.
Leise natürlich. Ich muss zugeben, dass ich mit E-Gitarren nicht viel anfangen kann. Das ist nicht meine Welt. Aber die Musik habe ich immer bewundert. Besonders die Texte. Als er in deinem Alter war, hat dein Vater ganz fantastische Geschichten erfunden. Er setzte sich an seinen kleinen Tisch und schrieb sie auf, dann gab er sie seiner Mutter, die sie für ihn abtippen musste. Und schließlich malte er Bilder dazu. Es waren lustige Geschichten über Tiere, aber sie waren wahrhaftig und clever. Sie haben mich immer an dieses Buch über das Schweinchen und die Spinne erinnert. Wie heißt das doch gleich?«
» Wilbur und Charlotte ?«
»Genau das. Ich dachte immer, aus deinem Vater würde einmal ein Schriftsteller werden. Und irgendwie ist es wohl auch so gekommen. Die Worte, die er zu seiner Musik schreibt, das ist reine Poesie. Du hörst wohl nie so genau zu, wenn er etwas sagt, oder?«
Ich schüttelte den Kopf und schämte mich plötzlich. Mir war nicht einmal klar gewesen, dass mein Vater Texte schrieb. Er sang nicht, und ich hatte wohl angenommen, dass die Leute hinter dem Mikrophon auch diejenigen waren, die die Texte verfassten. Aber ich hatte ihn doch gesehen, wie er mit der Gitarre und einem Notizblock am Küchentisch gesessen hatte, wohl schon hundertmal. Ich hatte nur nicht darüber nachgedacht, warum er das tat.
Als wir an diesem Abend nach Hause kamen, ging ich mit den CDs der Band meines Vaters und einem Discman hoch in mein Zimmer. Ich schaute im Booklet nach, welche Lieder von meinem Vater stammten, und dann schrieb ich fein säuberlich die Texte ab. Erst als ich sie in mein Naturkundeheft eingetragen hatte und sie noch einmal las, erkannte ich, was Gramps meinte. Die Texte meines Vaters waren nicht irgendwelche Verse. Sie waren noch etwas anderes. Es gibt ein Lied, das Waiting for Vengeance heißt – Warten auf Vergeltung -, das ich mir immer wieder anhörte und von dem ich wieder und wieder den Text las, bis ich ihn auswendig konnte. Das Lied befindet sich auf dem zweiten Album, und es ist die einzige Ballade, die die Band je gespielt hat. Es hört sich fast ein bisschen wie Countrymusik an, weil Henry eine Art Hillbilly-Solo spielt. Ich hörte mir das Stück so oft an, dass ich anfing, es zu singen, ohne es zu merken.
He, was ist das?
Was ist aus mir geworden?
Und danach – wohin werde ich gehen?
Jetzt ist da nur Leere,
wo vorher deine Augen das Licht einfingen.
Aber das ist so lange her.
Das war letzte Nacht.
He, was ist das?
Was ist das für ein Geräusch?
Es ist nur meine Lebenszeit, die
mir am Ohr vorbeirast.
Und alles scheint kleiner als das Leben.
So ist es schon lange,
seit letzter Nacht.
Jetzt gehe ich.
Gleich bin ich weg.
Ich nehme an, du fragst dich, was los ist.
Ich will es nicht,
aber ich habe keine Kraft mehr.
Und die Entscheidung fiel schon vor langer Zeit.
Es war letzte Nacht.
»Was singst du da, Mia?«, fragte mich mein Vater, als er mich ertappte, wie ich Teddy ein Ständchen darbrachte, während ich ihn in seinem Sportwagen in der Küche herumfuhr und versuchte, ihn zum Schlafen zu bringen.
»Dein Lied«, sagte ich verlegen. Ich hatte plötzlich das Gefühl, als sei ich unerlaubt in das Territorium meines Vaters eingedrungen. War es verboten, herumzulaufen und die Lieder anderer Leute zu singen, ohne sie um Erlaubnis gefragt zu haben?
Aber mein Vater schaute erfreut. »Meine Mia singt Waiting for Vengeance für meinen Teddy. Was soll man
dazu sagen?« Er beugte sich vor und zerzauste mir das Haar und kitzelte Teddy die pummelige Wange. »Nun, lass dich nicht aufhalten. Mach weiter. Ich übernehme diesen Teil hier.« Und mit diesen Worten nahm er mir den Sportwagen ab.
Es war mir peinlich, vor ihm zu singen, und so murmelte ich nur vor
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