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Wenn Ich Bleibe

Titel: Wenn Ich Bleibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gayle Forman
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mich hin, aber dann fiel mein Vater mit ein, und gemeinsam sangen wir leise weiter, bis Teddy einschlief. Dann legte er den Finger an die Lippen und bedeutete mir, ihm ins Wohnzimmer zu folgen.
    »Willst du eine Partie Schach spielen?«, fragte er. Er versuchte immer, mir das Spiel beizubringen, aber ich war der Meinung, dass dieses sogenannte »Spiel« mit viel zu viel Arbeit verbunden war.
    »Wie wär’s mit Dame?«, schlug ich vor.
    »Klar.«
    Wir spielten schweigend. Wenn mein Vater am Zug war, warf ich ihm verstohlene Blicke zu, wie er da in seinem ordentlich zugeknöpften Hemd saß, und versuchte, das schnell verblassende Bild des Typen mit dem gebleichten Haar und der Lederjacke in meiner Erinnerung zu bewahren.
    »Dad?«
    »Hmm?«
    »Kann ich dich was fragen?«
    »Jederzeit.«
    »Bist du nicht traurig, dass du nicht mehr in der Band spielst?«

    »Nö«, sagte er.
    »Nicht mal ein kleines bisschen?«
    Die grauen Augen meines Vaters betrachteten mich. »Wie kommst du plötzlich darauf?«
    »Ich habe mit Gramps gesprochen.«
    »Oh, verstehe.«
    »Wirklich?«
    Mein Vater nickte. »Gramps glaubt, er hätte irgendwie Druck auf mich ausgeübt, damit ich mein Leben ändere.«
    »Und? Hat er?«
    »Vermutlich indirekt. Indem er mir gezeigt hat, wer er ist und was es bedeutet, Vater zu sein.«
    »Aber du warst ein guter Vater, als du noch in der Band warst. Der beste Vater überhaupt. Ich würde nicht wollen, dass du das für mich aufgibst«, sagte ich, und plötzlich hatte ich einen Kloß im Hals. »Und Teddy wahrscheinlich auch nicht.«
    Mein Vater lächelte und tätschelte mir die Hand. »Meine Mia, Mia mein, ich gebe gar nichts auf. Es ist keine Frage von entweder – oder. Entweder Lehrer zu sein oder die Musik. Entweder Jeans oder Anzug. Die Musik wird immer Teil meines Lebens sein.«
    »Aber du hast die Band aufgegeben! Du hast aufgehört, ein Punk zu sein!«
    Mein Vater seufzte. »Das ist mir nicht schwergefallen. Diesen Teil meines Lebens habe ich bis zur Neige ausgekostet. Es war Zeit, damit aufzuhören. Ich habe
keinen zweiten Gedanken daran verschwendet, egal, was Gramps oder Henry darüber denken. Manchmal triffst du in deinem Leben Entscheidungen, und manchmal treffen die Entscheidungen dich. Ergibt das für dich irgendeinen Sinn?«
    Ich dachte an das Cello. Ich dachte daran, dass ich nicht begreifen konnte, warum ich mich so sehr davon angezogen gefühlt hatte, dass es mir so vorkam, als hätte das Instrument mich erwählt. Ich nickte, lächelte und wandte mich wieder dem Spiel zu. »Glaubst du, dass du mich schlagen kannst?«, grinste ich.

4.57 Uhr
    Ich muss ständig an Waiting for Vengeance denken. Es ist Jahre her, seit ich dieses Lied gehört oder daran gedacht habe. Aber nachdem Gramps gegangen ist, habe ich es mir vorgesungen, wieder und wieder. Mein Vater hat das Lied vor Ewigkeiten geschrieben, aber jetzt kommt es mir so vor, als sei es erst gestern gewesen. Als ob er es dort geschrieben hätte, wo immer er jetzt auch sein mag. Als ob es eine geheime Botschaft für mich sei. Wie sonst lassen sich diese Worte erklären: Ich will es nicht, aber ich habe keine Kraft mehr.
    Was bedeutet das? Soll das eine Art Anweisung sein? Ein Hinweis darauf, was meine Eltern für mich entscheiden würden, wenn sie könnten? Ich versuche, die Sache aus ihrem Blickwinkel zu sehen. Sie würden bei mir sein wollen, würden wollen, dass wir alle zusammen wären. Aber ich habe keine Ahnung, ob das geschieht, wenn man stirbt, und wenn, dann geschieht es sowieso, egal, ob ich heute sterbe oder in siebzig Jahren. Was würden sie sich jetzt für mich wünschen? Sobald ich mir diese Frage stelle, kann ich das ärgerliche Gesicht meiner Mutter vor mir sehen. Sie würde mir gehörig
den Kopf zurechtrücken, weil ich überhaupt darüber nachdenke, nicht zu bleiben. Aber mein Vater, er würde begreifen, was es bedeutet, keine Kraft mehr zu haben. Vielleicht würde er – wie Gramps – verstehen, warum ich nicht glaube, bleiben zu können .
    Ich singe das Lied, als ob tief in den Worten tatsächlich ein Hinweis verborgen wäre, eine musikalische Straßenkarte, die mir sagt, wohin ich gehen und wie ich dorthin kommen soll.
    Ich singe und konzentriere mich und singe und denke so angestrengt nach, dass ich kaum bemerke, dass Willow auf die Intensivstation zurückkehrt, kaum registriere, dass sie mit der bissigen Oberschwester spricht, kaum den eisernen Willen in ihrer Stimme wahrnehme.
    Hätte ich darauf geachtet, wäre mir klar

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