Wenn Ich Bleibe
erreichten, hatte ich eine Vision: Ich sah mich selbst mein Cello durch New York schleppen. Irgendwie wusste ich, dass es geschehen würde, und diese Gewissheit hatte sich wie ein warmes
Geheimnis in meinem Bauch niedergelassen. Ich bin nicht der Typ, der etwas auf Vorahnungen gibt, und ich bin auch nicht übermäßig von mir eingenommen, und daher vermutete ich, dass es für diese Vision einen anderen Grund geben musste als Hellseherei.
»Es war ganz okay«, sagte ich zu Adam, und als ich es sagte, merkte ich, dass ich ihn gerade zum ersten Mal richtig angelogen hatte. Es war eine andere Art zu lügen, als einfach nur bewusst eine Tatsache zu verschweigen. Das hatte ich vorher getan.
Ich hatte Adam nämlich anfangs gar nicht erzählt, dass ich mich in Juilliard bewerben wollte. Und das erwies sich als schwieriger, als ich gedacht hatte. Bevor ich meine Unterlagen und die Aufnahme von meinem Cellospiel einschicken konnte, mussten Professor Christie und ich jede freie Minute mit der Feinarbeit an dem Schostakowitsch-Konzert und an den beiden Bach-Suiten verbringen. Wenn Adam mich fragte, warum ich so wenig Zeit hatte, sagte ich bloß, dass ich ein paar schwierige neue Stücke übte. Ich rechtfertigte meine beiläufigen Erklärungen damit, dass es ja die Wahrheit war. Und dann buchte Professor Christie für ein paar Stunden ein Tonstudio an der Universität, damit ich eine gute Aufnahme nach Juilliard schicken konnte. Ich musste an einem Sonntagmorgen um sieben Uhr im Studio sein. Am Abend zuvor hatte ich so getan, als ob ich mich nicht wohl fühlte, und hatte Adam gebeten, ausnahmsweise nicht bei mir zu übernachten.
Auch dafür fand ich vor mir selbst eine Rechtfertigung. Ich redete mir ein, dass ich ja vor Nervosität tatsächlich Bauchgrimmen hatte. Also war es keine richtige Lüge. Und außerdem, dachte ich, musste man die Sache nicht an die große Glocke hängen. Kim hatte ich auch nichts erzählt, also war Adam nicht der Einzige, der diesem Täuschungsmanöver unterlag.
Aber nachdem ich ihm gesagt hatte, dass es beim Vorspielen »ganz okay« gewesen sei, war mir, als ob ich über Treibsand liefe, und dass ich – wenn ich noch einen Schritt weiterginge – mich nicht mehr würde befreien können und untergehen würde. Und so holte ich tief Atem und zog mich wieder auf festen Boden. »Nein, das stimmt nicht ganz«, sagte ich zu Adam. »Ich war wirklich gut. Ich habe besser gespielt als je zuvor in meinem Leben. Es war, als wäre ich besessen gewesen.«
Adams erste Reaktion war ein stolzes Lächeln. »Ich wünschte, ich hätte dabei sein können.« Aber dann umwölkten sich seine Augen, und er presste die Lippen zusammen. »Warum wolltest du es nicht zugeben?«, fragte er. »Warum hast du mich nach dem Vorspielen nicht angerufen und mit deinem Erfolg angegeben?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich.
»Nun, das sind ja großartige Neuigkeiten«, sagte Adam und versuchte, seine verletzten Gefühle zu verbergen. »Das müssen wir feiern.«
»Okay, lass uns feiern«, sagte ich mit gezwungener Heiterkeit. »Wir können am Samstag nach Portland
fahren, vielleicht in den Japanischen Garten gehen und später thailändisch essen.«
Adam zog eine Grimasse. »Ich kann nicht. Wir spielen an diesem Wochenende in Olympia und Seattle. Die Mini-Tour – du erinnerst dich? Aber am Sonntag bin ich am späten Nachmittag wieder da. Wir können uns am Sonntagabend in Portland treffen, wenn du willst.«
»Ich kann nicht. Ich spiele in einem Streichquartett bei irgendeinem Professor zu Hause. Was ist mit nächstem Wochenende?«
Adam wirkte gequält. »An den nächsten Wochenenden sind wir im Tonstudio, aber wir können ja während der Woche ausgehen. Zum Mexikaner?«
»Klar. Zum Mexikaner«, sagte ich.
Zwei Minuten zuvor hatte ich nicht einmal feiern wollen, und jetzt fühlte ich mich abgeschoben und vernachlässigt, gekränkt, weil er mich irgendwo zwischen seinen Terminen einschob und wir in dasselbe Restaurant gehen würden, in das wir immer gingen.
Als Adam letztes Jahr die Highschool abschloss und bei seinen Eltern auszog, um in das House of Rock zu ziehen, hatte ich nicht erwartet, dass sich viel ändern würde. Er wohnte ja noch immer in der Nähe. Wir sahen uns immer noch ständig. Ich vermisste unsere Begegnungen im Musiktrakt der Schule, aber immerhin war es eine Erleichterung, dass unser Liebesleben von den anderen Schülern nicht mehr ständig unter die Lupe genommen wurde.
Aber die Dinge hatten sich verändert,
Weitere Kostenlose Bücher