Wenn Ich Bleibe
und eine Lawine aus Tränen stürzt ihm über das Gesicht. Und ich denke: Ich liebe dich.
Ich höre, wie er einen Mund voll Atem nach dem anderen einsaugt. Und dann fährt er fort: »Alles, woran ich denken kann, ist, wie schrecklich es wäre, wenn dein Leben hier und jetzt enden würde. Ich weiß, dass alles auch dann schrecklich ist, wenn du hierbleibst, und ich bin nicht so blöd zu glauben, ich könnte irgendetwas daran ändern. Das kann niemand. Aber ich kann mich einfach nicht mit der Vorstellung abfinden, dass du niemals alt werden, niemals Kinder haben wirst, dass du nie nach Juilliard gehen und niemals dein Cello vor einem riesigen Publikum spielen wirst, dass du ihnen nie Schauer über den Rücken jagen wirst, wie ich sie jedes Mal bekomme, wenn du deinen Bogen in die Hand nimmst, jedes Mal, wenn du mich anlächelst.
Wenn du bleibst, tue ich, was immer du willst. Ich verlasse die Band, gehe mit dir nach New York. Aber wenn du willst, dass ich aus deinem Leben verschwinde, dann tue ich auch das. Ich habe mit Liz geredet, und sie meinte, dass es vielleicht zu schmerzhaft für dich sein würde, in dein altes Leben zurückzukehren, dass es vielleicht leichter wäre, wenn du unsere Beziehung einfach hinter dir lassen würdest. Das wäre schlimm,
aber ich würde es akzeptieren. Ich kann ertragen, dich so zu verlieren, wenn ich dich nur nicht hier und heute verlieren muss. Ich werde dich gehen lassen. Wenn du bleibst.«
Dann lässt Adam sich selbst gehen. Sein Schluchzen klingt wie das Hämmern von Fäusten auf weichem Fleisch.
Ich schließe meine Augen. Ich halte mir die Ohren zu. Ich kann das nicht mit ansehen. Ich kann das nicht mit anhören.
Aber plötzlich ist es nicht länger Adam, den ich höre. Es ist dieser Ton, dieses dumpfe Stöhnen, das sich in Sekundenbruchteilen erhebt und in etwas unendlich Liebliches verwandelt. Es ist das Cello. Adam hat mir Kopfhörer über die Ohren gesetzt und legt gerade einen iPod auf meine Brust. Er entschuldigt sich. Er wisse, dass dies nicht mein Lieblingsstück sei, aber etwas Besseres habe er auf die Schnelle nicht finden können. Er dreht die Lautstärke auf, sodass ich die Musik auf der Morgenluft schweben höre. Dann nimmt er meine Hand.
Es ist Yo-Yo Ma. Andante con poco e moto. Das leise Klavier klingt fast wie eine Warnung. Dann kommt das Cello, wie ein blutendes Herz. Und mir ist, als würde in mir etwas explodieren.
Ich sitze am Frühstückstisch mit meiner Familie, trinke heißen Kaffee, lache über Teddys Schokoladenschnute. Draußen tanzen Schneeflocken.
Ich stehe auf einem Friedhof. Vor drei Gräbern unter einem Baum auf einem Hügel, oberhalb des Flusses.
Ich liege neben Adam, den Kopf auf seiner Brust, auf einem sandigen Streifen neben dem Fluss.
Ich höre Menschen das Wort Waise aussprechen und erkenne, dass sie über mich sprechen.
Ich gehe mit Kim durch New York City. Die Wolkenkratzer werfen lange Schatten auf unsere Gesichter.
Ich habe Teddy auf dem Schoß sitzen und kitzle ihn so heftig, dass er sich vor Lachen krümmt.
Ich habe das Cello zwischen den Knien, dasjenige, das mir meine Eltern nach meinem ersten öffentlichen Auftritt schenkten. Meine Finger streicheln das Holz und die Stifte, die von der Zeit und von unzähligen Berührungen glatt poliert sind. Mein Bogen kauert über den Saiten. Ich schaue auf meine Hand, warte, bis mein Einsatz kommt.
Ich schaue auf meine Hand, die von Adams Hand gehalten wird.
Yo-Yo Ma spielt weiter, und es ist mir, als würden sich Klavier und Cello in meinen Körper ergießen, so wie bei einer Bluttransfusion. Und die Erinnerungen an mein Leben, wie es war, und die Visionen, wie es sein könnte, kommen immer schneller, immer drängender. Ich kann nicht länger mit ihnen Schritt halten, aber sie kommen immer noch, und alles prallt zusammen, bis ich es nicht länger ertrage. Bis ich es keine Sekunde länger ertrage, in diesem Zustand zu verharren.
Ein blendender Blitz, dann ein Schmerz, der mich ganz kurz schier zerreißt, ein stummer Schrei aus meinem zerbrochenen Körper. Zum ersten Mal bekomme ich einen Vorgeschmack darauf, wie entsetzlich das Leben sein wird.
Aber dann fühle ich Adams Hand. Ich spüre sie nicht, sondern fühle sie. Körperlich. Ich sitze nicht mehr zusammengekauert auf dem Stuhl. Ich liege auf dem Rücken in dem Krankenhausbett, wieder vereint mit meinem Körper.
Adam weint, und irgendwo tief in mir drin weine ich auch, weil ich endlich fühlen kann. Ich fühle nicht nur den
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