Wenn ich dich gefunden habe
Maßnahme«, hatte der Arzt gesagt, obwohl Angel nicht nachgefragt hatte. »Nur, bis deine Lebenslust zurückgekehrt ist.«
»Ich mache mir wirklich Sorgen um sie.« Kaum war es heraus, bereute Dara ihre Aussage. Es war schlimm genug, wenn sie so etwas dachte.
»Was soll das heißen?« Tintin und Anya beugten sich über den Tisch. Sie wussten natürlich, dass Dara besorgt war, aber es war ungewöhnlich, dass sie es offen aussprach.
»Ist irgendetwas passiert?«, fragte Tintin.
»Nein, nein, es ist nichts passiert«, versicherte ihm Dara hastig. »Es ist nur …« Hätte sie doch bloß nichts gesagt!
»Du hast Angst, dass ätwas passiert«, stellte Anya fest. Angst. Das traf den Nagel auf den Kopf. Wann immer Angel länger als eine halbe Stunde im Bad war und Dara durch die Tür nichts hörte, hatte sie Angst.
Wenn Angel mit dem Auto die Straße entlangbrauste – sie fuhr jetzt immer allein zur Dialyse – sah Dara im Geiste, wie Angels Auto auf eine Straßenlaterne zusteuerte. Immer neue Horrorszenarien liefen vor ihrem inneren Auge ab – eines schlimmer als das andere. Sie würde nicht über diese Angst sprechen. Mit niemandem.
»Aber ich glaube, sie wirken«, sagte sie lächelnd, um einen zuversichtlicheren Tonfall bemüht. »Die Antidepressiva, meine ich. Sie hat gestern mit uns zu Abend gegessen.«
Tatsächlich war Angel gestern heruntergekommen, ganz langsam und vorsichtig, wie sie in letzter Zeit immer ging. Sie hatte ein halbes Glas Wasser getrunken und eine halbe gedünstete Hühnerbrust gegessen, die Dara mit Knoblauchzehen gespickt hatte, und außerdem ein Röschen Brokkoli und eine kleine Kartoffel, und Dara hatte sogleich gefunden, dass ihre Schwester etwas weniger blass aussah.
»So ist es brav«, hatte Mrs. Flood gesagt und Angels Arm gedrückt. »Bald bist du wieder ganz die Alte.«
»Joe hat angerufen«, hatte Dara gesagt.
Angel war aufgestanden. »Ich gehe mich ausruhen. Ich bin müde.« Und dann war sie gegangen, ehe eine von ihnen etwas hatte sagen können, um sie zum Bleiben zu bewegen.
»Nein, so schnell geht das nicht«, sagte Tintin mit wissendem Blick.
»Kennst du dich denn damit aus?«, fragte Dara.
»Ich musste nach Fluffys Tod Antidepressiva nehmen, weißt du nicht mehr? Ich war völlig fertig.« Dara nickte. Sie erinnerte sich nur zu gut an das Ableben von Fluffy, dem Kaninchen. Tintin hatte eine komplette Bestattungszeremonie organisiert. Er hatte dafür sogar ein Musikstück mit dem Titel Das Todesröcheln komponiert und auf einer rostigen Tin Whistle zum Besten gegeben. Dann hatte er vor dem DIN-A4 großen Grab, in dem Fluffy in einer Jimmy-Choo-Schuhschachtel seine letzte Ruhestätte finden sollte, eine ergreifende Grabrede gehalten.
»Es hat mindestens zwei Wochen gedauert, bis die Tabletten angefangen haben zu wirken«, fügte er hinzu. Dara nickte erneut – sie erinnerte sich auch lebhaft an diese beiden Wochen, an die Tränenfluten, die Totenklagen und die endlosen Diskussionen, ob es wohl einen Himmel gab und ob unschuldigen Häschen wie Fluffy dort Zutritt gewährt wurde.
»Erzähl von Privatdätektiv«, sagte Anya, gelangweilt von der Story um Tintins Kurzzeitdepression.
»Er heißt Stanley Flinter«, sagte Dara.
»Schade, dass er sich nicht Stan Flinter nennt«, bemerkte Tintin. »Das wäre viel passender für einen Privatdetektiv.«
»Ich richte es ihm beim nächsten Mal aus«, versprach Dara.
»Wie ist der denn so, dieser Stanley Flinter?«
»Na ja, er … Er ist realistisch, würde ich sagen. Auf eine pessimistische Art und Weise.« Anya und Tintin nickten. Sie wussten, dass auch Dara ihren Realismus stets vorsorglich mit einer Prise Pessimismus würzte. Nur für alle Fälle.
»Schön und gut, Dara«, Tintin wedelte ungeduldig mit der Hand, »aber wie ist er wirklich? Wie sieht er aus?«
»Inwiefern ist das denn relevant?«, fragte Dara. Trotzdem ließ sie sich die Frage durch den Kopf gehen. »Also ehrlich gesagt sieht er ein bisschen aus wie sein Hund Clouseau.«
»Ist er so behaart?«, fragte Tintin.
»Nein, er hat die gleichen Augen. Große, braune Augen, die so traurig dreinblicken, dass Anya garantiert in Tränen ausbrechen würde. Und er ist klein. Aber eigentlich sieht er ganz in Ordnung aus. Bis auf sein Gesicht.«
»Was ist denn mit seinem Gesicht?«
»Als ich ihn kennengelernt habe, war seine eine Wange ganz blau und geschwollen und zerkratzt.«
»Warum? Hat er sich geprügelt?« Tintin beugte sich gespannt nach vorn. Er liebte
Weitere Kostenlose Bücher