Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
erzählen, die nicht mehr da sind.
»Siehst du, Andre, hier drunter liegen die Toten«, sage ich.
»Tot, Papa.«
»So ist das Leben«, füge ich hinzu und bin sicher, dass er es versteht.
Wortlos zieht Andrea die Schuhe aus, breitet die Arme aus und flattert umher wie ein großer Schmetterling, ein offenes, entrücktes Lächeln auf den Lippen.
Schon sind wir in Mississippi. Vielleicht sind wir zerstreut, irgendetwas muss uns bei der Weiterfahrt entgangen sein, jedenfalls kommt plötzlich von hinten ein Auto angerast, und eine Frau macht uns Zeichen anzuhalten. Ein Überfall! Nein, weit gefehlt: Auf einmal schalten sie das Blaulicht ein, fahren neben uns und drängen uns an den Straßenrand. Eine Polizistin in Zivil steigt aus, ein Blick wie eine Hyäne, verärgert über Andreas fragenden Gesichtsausdruck und vor allem darüber, dass er ihr nicht zuhört, keine Sekunde stillhält. Jetzt fängt er auch noch an, um das Auto herumzustreichen, als hätte er noch nie eins gesehen, und versucht es anzufassen. Die Polizistin packt Andrea am Arm, sie will, dass er strammsteht. »Was gibt es da zu lachen?«, sagt sie. »Warum lachst du?« Und er lacht, lacht und spricht nicht; die Polizistin wirkt verunsichert, dieser Junge mit dem Lockenkopf ist einfach nicht der Typ für eine Jugendbande. Sie überlegt, beruhigt sich. Dann lässt sie uns laufen.
Als das Schild »Bienvenue en Louisiane« auftaucht, darüber die gelbe Lilie auf blauem Grund, werde ich ganz aufgeregt. New Orleans ist ein Mythos, ein Kraftfeld, das eine ungeheure Anziehungskraft besitzt. Ich bin unheimlich gespannt auf diese Stadt des Wassers und der Musik. Für Andrea könnte sie der ideale Ort sein.
»Andre, hier machen alle Musik, auch auf den Gehsteigen. Angeblich gibt es sogar eine Band, die mit Pizzakartons Blues spielt.«
Andrea nickt. Laut singend fahren wir in die Stadt hinein. Unter den vielen Zetteln mit Ratschlägen von Freunden finde ich die Adresse des Hotels Sonesta in der Bourbon Street. Wir bekommen ein Zimmer mit einem phantastischen Balkon mit Eisengeländer. Wellen von Jazz und Blues steigen von der Straße herauf, schlagen über uns zusammen, locken uns hinaus in ein Labyrinth von Tönen. Unterwegs fotografieren und filmen wir jede Gitarre, jedes Schlagzeug, jede Ziehharmonika, jedes Saxophon und jeden Sänger, die uns begegnen. Andrea ist begeistert, er küsst mich ständig und wirkt selig.
Er geht ein paar Meter vor mir, ich beobachte die Reaktionen, die er bei den Menschen auslöst. Mädchen seines Alters drehen sich nach ihm um und stupsen sich gegenseitig mit dem Ellbogen: »Hast du den gesehen?« – »Super Typ.« Andrea sieht niemanden lange an, blickt sich höchstens mal rasch und verstohlen um, und das steigert die Neugier noch mehr.
Doch dann sehen sie, dass er sich seltsam verhält: Er reibt sich die Hände, hüpft auf der Stelle, rennt hin und her. Kaum ist er weitergegangen, höre ich andere halblaute Kommentare: »Der ist verrückt«, »Hast du gesehen, was er macht?«, »Voll daneben.« Tja, daneben, das stimmt schon: Er kommt von einem Ort, an dem andere Gesetze gelten, andere Regeln, andere Zeichen, andere Schönheitsvorstellungen, und die überträgt er auf diese Welt hier, wann er will und wie er kann.
Noch habe ich nicht verstanden, welches Verhältnis Andrea genau zur Musik hat. Er hört alle Arten von Musik, der iPod in seinem Zimmer läuft ununterbrochen. Manchmal stört es ihn, wenn es zu laut wird, dann wieder scheint es ihm egal zu sein. Vielleicht gefällt es ihm einfach, in ein Klangbad einzutauchen: Im Auto macht er immer das Radio an, und beim Heimkommen schaltet er sofort den Fernseher ein. Oft lässt er lange denselben Sender laufen, ist ganz vernarrt in ein wiederkehrendes Element, in eine bestimmte Tonsequenz, zu der er immer wieder zurückspult. Als bräuchte er eine Stimme, ein Lachen, ein paar angedeutete oder verschwommene Töne, denen es wie einem Leuchtturm im Nebel gelingt, ihn zu lotsen.
Hierher, zu uns.
New Orleans
Bevor wir ausgehen, kontrollieren wir, ob das Gummiband noch hält. Auf meiner Seite alles in Ordnung. Wie ist es bei dir?
Andrea sucht gewissenhaft an seinem Bauch nach dem unsichtbaren Band.
»Hast du es verloren?«
»Nein.«
»Suchst du das Gummiband?«
»Gummiband schön.«
Nach einer Woche haben wir nicht einmal mehr ein halbwegs sauberes Taschentuch. Was wir brauchen, ist eine Wäscherei. Sonst gewöhnen wir uns zuletzt noch an diese langsam von unserem
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