Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
Ohrfeigen wir ihm am Anfang für dieses Verhalten gaben…
Ich weiß, dass man die Ursachen für Autismus nicht kennt. Multifaktoriell, heißt es. Das Leben selbst ist multifaktoriell. Der Autismus kann da keine Ausnahme sein.
Ob es vielleicht an dem Impfstoff lag? Die ersten Eigentümlichkeiten hatten wir einige Monate nach der Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln festgestellt.
Ich sprach Doktor Barnard darauf an.
»Du glaubst, es war die Impfung?«
»Ja. Irre ich mich?«
»Man nimmt an, die Ursache sei genetisch.«
»Was soll ich jetzt machen?«
Barnard, dunkelblonde Haare, brauner Anzug unter dem Kittel, blasser, schütterer Bart, warf einen Blick zur Decke, nahm eine Tablettenschachtel in die Hand und sagte: »Du wirst dich daran gewöhnen.«
Gewiss, aber Andrea wird sich abschotten, in eine andere Welt abdriften. Wo er mit niemandem sprechen kann und nur schwerlich allein entscheiden kann. Er wird keine Beziehungen, keine Arbeit, keine Freundin haben. In einem Kinderhospital las ich mal an der Wand die Zeilen:
»Okay, Krankheit, lass mich diese Nacht leiden und, wenn du willst, auch morgen und übermorgen. Einen Monat, ein Jahr, spiel ein bisschen mit mir, aber für immer, nein, für immer nicht.«
Verdammt!
Der Blues in New Orleans versetzt mich in einen seltsamen Zustand…
Lost in Louisiana
Abschied von der Bourbon Street: Wir haben uns in dem Hotel so richtig verwöhnen lassen und die Annehmlichkeiten in vollen Zügen genossen.
Als wir aufs Motorrad steigen, streckt Andrea beide Hände in die Luft – sein Zauberstab ist weg. »Hast du ihn vergessen?«, frage ich. Er schüttelt die Hände, sagt, der Stab sei da. Ich sehe nach, nein, hier ist er nicht, er wird wohl im Zimmer liegengeblieben sein.
»Denkst du, dass New Orleans deinen Zauberstab braucht?«
»Ja.«
Wir durchqueren die Stadt, noch bevor die Kaffeemaschinen blubbern. Eine lange Strecke liegt vor uns, der Auftakt zu einem harten Programm: Louisiana und Texas werden uns auf die Probe stellen.
Das chaotische, lärmende Spektakel der Nacht wird in die Gullys gespült von riesigen Lastwagen, die die Straßen sauberwaschen und kleine Sintfluten auslösen. New Orleans wappnet sich für den nächsten round.
Wir verlassen die großen, wie mit dem Lineal gezogenen Straßen und kurven durch ein Netz winzig kleiner Orte. Überall Reihenhäuschen, kaum Autos. Amerika wird immer weiter und leerer: Wieso mussten sie eigentlich bei all dem Raum auch noch auf dem Mond herumtanzen?
Wenn man viel Raum zur Verfügung hat, denkt man vielleicht, man habe auch viel Zeit. So geht es mir gerade mit der Harley, sie ist nur Tank und Gaspedal. Und Sattel natürlich. Ich weiß, dass ich ihr mehr Zeit widmen müsste, sie kontrollieren, überlegen, wie viel sie aushält, ihr ein bisschen Wartung gönnen. Früher oder später wird der Zeitpunkt kommen…
»Krokodil« steht in Riesenlettern auf dem Schild eines Restaurants, und ich sage zu meinem Kumpel: »Hast du Lust auf ein Krokodilsteak?« Ich ahne, dass Andrea an meiner Schulter dieses verwunderte Gesicht macht, das er immer hat, wenn er wieder in der Welt auftaucht und sie seltsam findet.
Inmitten einer Meute hungriger Lastwagenfahrer ist ein Tisch frei, Andrea isst das übliche Fleisch, und ich wage mich ans Krokodil. Nichts Besonderes, es schmeckt weder nach Moder noch nach Algen aus sumpfigen Tiefen, es hat keinen Nachgeschmack von Blaubeeren oder Schaffleisch, das an der Furt erbeutet wurde. Eher so ähnlich wie Thunfisch.
Allmählich leert sich das Lokal. Übrig bleiben nur noch Andrea und ich und zwei junge Männer, beide groß und dick mit einem kaum angedeuteten Spitzbart am Kinn. Sie könnten Serienkiller oder Katzenhaizüchter sein.
Andrea will noch etwas zu essen.
»Was möchtest du?«
»Essen.«
»Na gut. Möchtest du Pommes frites?«
»…frites.«
»Sag es ordentlich: Pommes frites.«
»Ja.«
»Pommes frites. Du willst Pommes frites.« Ich greife nach dem Ketchup. »Mit Ketchup?«
»Ketcha.«
»Andre, jetzt streng dich mal an! Du musst die Sachen richtig aussprechen.«
Er darf seine Stimme nicht vergessen, die Wörter. Er muss sich anstrengen. Die Kellnerinnen beobachten uns.
»Möchtest du auch einen Kringel?«
»…ingel.«
»Los jetzt! Kringel…«
»Kringelingel.«
Eine Kellnerin kommt an unseren Tisch, dann auch die zweite. Sie wirken besorgt. Ich erkläre ihnen, dass der Junge autistisch ist und er lernen soll, möglichst viele Wörter zu gebrauchen, damit
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