Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
er sie den anderen zuwerfen kann wie Rettungsringe. Sonst wird die Insel, auf der er wohnt, immer kleiner. Da lass ich nicht locker. Auch auf die Gefahr hin, mich unbeliebt zu machen.
Während wir reden, erhebt sich Andrea mit dem Ketchup in der Hand, geht zu einem der leeren Tische, breitet einige Reihen Papierservietten aus und malt darauf ein Dutzend fast gleicher Ideogramme, à la Warhol, aber viel phantasievoller. Er bewundert sie und legt dann zufrieden ein Meisterwerk auf eine saubere Serviette, darauf wieder eine saubere Serviette, wieder ein Meisterwerk und so weiter, bis er eine mehrstöckige Torte aus Papier und Ketchup hergestellt hat. Das Deckblatt ist besonders reich verziert. Die Kellnerinnen kriegen den Mund nicht mehr zu, sie können sich kaum halten vor Lachen – dabei hatte der Tag so langweilig begonnen. Wir machen alles sauber, und es bleibt keine Spur zurück. Eine der beiden Kellnerinnen sagt, wir hätten ein Meisterwerk zerstört, manche Meisterwerke würden unerklärlicherweise im Müll landen.
Zu unserer Überraschung fahren wir eine lange Strecke auf von Bäumen gesäumten Straßen, Alleen, wie man sie von Europa kennt. Und am Ende der Bäume ein herrlicher See. Andrea wird unruhig, und ich komme ihm zuvor: Baden! Rasch hineinspringen, denke ich, und danach fahren wir weiter. Doch dann ist das Wasser warm und klar, ein Hochgenuss, und Andrea ans Trockene zu locken ist schier unmöglich.
»Los, Andre, gleich wird es dunkel. Wir müssen ein Hotel suchen.«
»Ein Hotel, Papa.«
»Steig auf und halte dich gut fest, hier geht’s bergauf.«
Ich merke, dass die Scheinwerfer nicht funktionieren.
»Andre, wir sind komplett ohne Licht!«
»Ohne Licht.« Es scheint ihn nicht im Geringsten zu erschrecken. Er klammert sich nicht stärker an mich, wirkt nicht nervös.
Es ist ganz schön riskant, so loszufahren, der Mond scheint nicht, und bald wird es stockfinster. Amerika im Dunkeln ist dunkel. Wirklich dunkel. Der erste bewohnte Ort ist fünfzig Kilometer entfernt. Es gibt zwei mögliche Routen dorthin. Auf gut Glück wählen wir eine davon aus. Sie erweist sich als pechschwarze Ebene. Ich hänge mich an die wenigen vorbeikommenden Autos, versuche ihren Lichtern zu folgen, doch bestimmt kriegen die Fahrer einen Schrecken, wenn sie ein geheimnisvolles Motorrad ohne Licht hinter sich sehen, ich verstehe ihren Standpunkt durchaus, aber wir sind ja kein Banditenpaar, keine Steuereintreiber, hey, mein Lieber, ich bin nicht einmal deine Schwiegermutter, und Andrea ist nicht dein unehelicher Sohn, der wegen seines Erbes hinter dir her ist! Nichts zu machen. Die Autos beschleunigen, bremsen abrupt, tun alles, um uns abzuschütteln. Wenn niemand da ist, taste ich mich langsam ein paar Kilometer allein vorwärts. Dabei verliere ich immer mehr das Raumgefühl und gerate allmählich ernsthaft in Panik. Nur Ruhe! Vorsichtig fahre ich zurück, suche den anderen Weg in der Hoffnung, er sei besser beleuchtet oder es gebe eine Tankstelle. Tatsächlich, nach einer Weile können wir von weitem eine erkennen. Dort spreche ich einen Pick-up-Fahrer an, erkläre ihm die Lage, und er lotst uns fast dreißig Kilometer bis zu einem Motel. Leicht mitgenommen kommen wir dort an. Aber wir sind da. Auch wenn wir keine Ahnung haben, wo in Louisiana wir uns eigentlich befinden.
Doch darum kümmern wir uns morgen. Halb tot falle ich aufs Bett. Wir waren zwölf Stunden unterwegs. Andrea hat allerdings keine Lust zu schlafen.
»Andre, willst du jetzt endlich schlafen oder nicht?«
»Kleine Runde drehen.«
»Was soll das heißen, kleine Runde drehen?! Nach all den Stunden auf dem Motorrad? Wir haben die Reifen abgefahren, den Tank leer gemacht, die Scheinwerfer ruiniert, uns den Hintern wundgesessen, und es reicht dir immer noch nicht?«
»Mit dem Motorrad. Kleine Runde drehen.«
Das darf doch nicht wahr sein! Was er sagt, entspricht nicht immer dem, was er denkt. Mit letzter Kraft versuche ich daher, ihn am Computer etwas zu fragen. Doch vorher atme ich tief durch.
Wie hast du dich hinten auf dem Motorrad gefühlt?
Mit undurchdringlichem Gesicht betrachtet Andrea den Bildschirm. Er knetet seine Hände. Ich stelle mich hinter ihn, will mir vorstellen, dass ich ganz leicht bin. Er blickt mich an, rasch, nachdenklich, lächelt, verschränkt die Finger.
Los, Andre, los! Faust, Herz, Buchstabe…
wie ein vogel im flug
Meine Güte, ist das aufregend, er spricht mit mir! Was sage ich, er spricht? Er schreibt, er schreibt
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