Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
Schweiß und den tausend Dünsten Amerikas durchtränkten Kleidungsstücke. In einem großen Washing Well spielen ein paar alte Herren Schach, während sie warten, bis ihre Waschmaschinen fertig sind, und in einer Ecke hält sich eine Frau ein Foto vor die Nase und schimpft leise. Gewöhnlich ist Andrea hingerissen vom Schauspiel des Wassers, das im Bullauge schäumt, heute dagegen gilt seine Aufmerksamkeit vorwiegend dem Foto der Frau. Er nickt bedächtig, irgendwie zustimmend. Er hilft mir beim Leeren des Trockners und folgt mir still und verträumt, während wir zurück aufs Zimmer gehen, um unsere Wäsche abzuladen und uns umzuziehen. Ah, die Segnungen des Waschmittels: In frisch duftenden Kleidern machen wir uns wieder auf den Weg und fühlen uns wie neugeboren. Ein Wohnwagen mit wehender spanischer Fahne rauscht an uns vorbei. Das muss die Familie aus Madrid sein, ein Weltmeister und drei fade, verdrießliche Gesichter.
Andrea nimmt Eintrittskarten für allerlei nächtliche Veranstaltungen entgegen, er sagt nicht nein, wenn ihm etwas angeboten wird. Er hält schon einen ganzen Packen in der Hand, doch immer wieder fallen ihm ein paar herunter. Wahrscheinlich immer dann, wenn seine Aufmerksamkeit sich verlagert, abreißt, von hier nach da springt, wer weiß, wohin: Da, wie der Blitz läuft er los, und wir spielen Fangen in den Gassen des French Quarter, zwischen Leuten mit reizenden Mördervisagen oder fiesem Haifischgrinsen. Die Häuser sind niedrig, sehr europäisch, überall hängen Fahnen, einschließlich der Friedensfahne. Andrea rennt, als wollte er ganz New Orleans zu Fuß durchmessen, und ich muss in dieser mittelalterlich anmutenden Kirmes hinter ihm herlaufen. Er sprengt quer durch die Menge, vorbei an Milchbubis und achtzigjährigen Greisen mit fußlangen Bärten, die zusammen Trompete spielen, wirft beinahe einige alte Frauen um, die auf dem Gehsteig um ein paar Münzen betteln, streift berittene Polizisten, die wohl hoffen, dass bald Feierabend ist. Vor einer unförmigen Frau, die schwerfällig vorwärts trottet, bleibt er plötzlich stehen; ein Mann mit der Statur eines Boxers feuert sie an: »Gott helfe ihr«, schreit er, »lauf, lauf weiter!« Hinter ihnen hat sich eine kleine Prozession von Leuten gebildet, die den beiden folgen. Die Frau zieht alle unweigerlich mit sich mit ihrem langsamen, fast schleppenden und doch unbeirrten Gang, sie kann und will nicht stehen bleiben, Atem holen, den strömenden Schweiß abtrocknen, jedes Hindernis auf der Straße scheint wie weggefegt von dem Mann, der den Herrgott anruft. Sein lautstarkes Geschrei erhebt sich gen Himmel wie Weihrauchschwaden: »Schaut, Gott ist mit ihr, ja, mit dieser Frau! Weißt du überhaupt, was du für ein Glück hast, Baby? Du bist nicht allein, bist in bester Gesellschaft, in ganz besonderer Gesellschaft, einer Gesellschaft, die dein Leben verändern wird!«
Der Mann plärrt laut und theatralisch, und Andrea und ich heben den Daumen, damit er sich für seine Anstrengung belohnt fühlt. Eine Weile folgen auch wir den beiden wie hypnotisiert: Es ist eine Büßerszene aus vergangenen Zeiten und gleichzeitig so unglaublich amerikanisch. Aus dem Augenwinkel nehmen wir die Gestalt eines großen, gebeugten Mannes wahr, von Kopf bis Fuß in makelloses Weiß gekleidet, der ein zwei Meter langes Kreuz auf der Schulter trägt: Was für eine Show!
Langsam schwirrt uns der Kopf, aber wir schlendern noch eine Weile in Zeitlupe weiter, bis uns die Müdigkeit einholt. Im Hotel fällt Andrea sofort ins Bett, und ich trete kurz auf den Balkon, um ein wenig Luft zu schnappen. Ich denke an die Stadt, an die bizarren Leute. Wieder im Zimmer, betrachte ich meinen Sohn, der so friedlich schläft: Ich gäbe alles dar-um zu wissen, welche Gedanken gerade in seinem Kopf entstehen.
Bis zweieinhalb war er völlig gesund.
Er telefonierte mit seinem Opa, beim Autofahren sang ich ihm das Lied vom Bauernhof vor, und er ahmte lachend alle Tiere nach. Wir spielten mit seiner großen blauen Raupe, das bereitete ihm großen Spaß. Und mir auch.
Dann hat sich etwas verändert: Aus dem fröhlichen Kind, das sprechen lernte und gedieh, wurde plötzlich ein düsterer und in sich gekehrter kleiner Junge.
Er warf Sachen in den Fluss, der nahe am Haus vorbeifloss: Handtaschen, T-Shirts, Schuhe, Portemonnaies, Fotos. Ins Wasser damit.
Er begann, monotone, unmotivierte Bewegungen zu machen, er sah uns nicht mehr in die Augen. Das kannten wir nicht.
Wie viele
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