Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
Fischteller am Strand von Acapulco. Mir wird speiübel, aber ich halte durch. Nach dem Essen nehmen wir das erste kleine Hotel, das uns begegnet. Das Zimmer ist schäbig, wenigstens gibt es einen Ventilator, wir machen die Tür hinter uns zu, und ich drehe den Schlüssel um. Andrea will gleich wieder raus. Was will er denn draußen so unbedingt? Ein verdammtes Eis. Das liegt jetzt leider nicht drin.
In Kleidern falle ich aufs Bett. Mit letzter Kraft erinnere ich Andrea daran, dass er sich die Zähne putzen und sich ausziehen soll. Eine ganz neue Situation. O je, sage ich mir, es ist so weit! Du bist hinüber, und wer weiß, wie Andrea reagiert, womöglich macht er die Tür auf, kapiert, dass er Hilfe holen muss, geht raus und schreit: »Hilfe!«, oder glaubt vielmehr, dass er schreit, stattdessen kommt kein Ton aus ihm raus, er fasst nur dem Ersten, der daherkommt, an den Bauch, und der denkt, es handle sich um einen Scherz. Dabei ist es ein Hilferuf, der bedeutet: Meinem Papa geht es schlecht!
Ich verstecke den Schlüssel unter dem Kopfkissen, aber das genügt mir nicht: »Andre, geh ja nicht aus dem Zimmer, bitte!«
Dann zwinge ich mich, tief zu atmen, der Ventilator wirkt Wunder, die Luft streichelt mich, und die Panik verfliegt. Doch sobald ich einen Finger rühre, dreht sich das ganze Zimmer um mich. Dunkelheit…
Als ich wieder zu mir komme, ist es vier Uhr in der Nacht. Andrea liegt angezogen und wach auf dem Bett. Ich schleppe mich ins Bad, dann werfe ich mich wieder aufs Bett. »Schlaf, Andre«, murmele ich. Er bewegt sich kaum, wirkt ruhig. Ich kämpfe gegen chaotische Bilder in meinem Kopf: Ich sehe Andrea mit seiner Mama, sie sind auf dem Rasen vor dem Haus, Andrea hält einen Legostein in der Hand. Mit einer monotonen Bewegung dreht er ihn hin und her und wiederholt andauernd: »La la la la la.« Die Mutter ist wie hypnotisiert, Andrea macht unbeirrt weiter, sie krümmt sich, als hätte ihr jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt, sie muss sich übergeben…
Erneut tiefe Dunkelheit.
On the road again
Kleineres Corpus callosum, Amygdala und limbisches System mit neuronalen Reduktionen. Ein Bekannter von mir hatte bei seinem an Autismus leidenden Sohn hochdifferenzierte Hirnuntersuchungen vornehmen lassen. Ich erinnere mich an die Namen all der Gehirnteilchen, er las mir die Papiere vor, und in seinem Blick stand die Frage: Gibt es das, so viel Chaos? »Wer weiß, wie es bei uns innen drin aussieht«, sagte ich, um uns beide ein bisschen aufzumuntern. Denn ein Lächeln können diese Maschinen nicht fotografieren.
Ich öffne die Augen und sehe Andrea schlafend daliegen, nicht einmal die Socken hat er ausgezogen. Der Gedanke, dass er neben mir gewacht hat, rührt mich, aber der Magen rebelliert noch immer. Ich versuche aufzustehen, setze einen Fuß vor den anderen, taumele. Das Zimmer schwankt und wirkt riesig groß. Am Fußende des Bettes feinste Papierschnitzel. Vielleicht ist das Schlimmste vorbei: Die Zauberkraft der Papierfetzen ist mächtig. Ich gehe ins Bad, will mich erfrischen, und aus der Leitung kommt kein Tropfen Wasser. Da packt mich die Wut: Wir brauchen sofort ein anderes Hotel! Aber dafür müsste ich wieder ins Auto steigen, und im Augenblick fühle ich mich dazu wirklich nicht in der Lage. Andrea öffnet die Augen, springt vom Bett auf und mustert mich besorgt.
»Schon gut, ich bin noch nicht tot.«
»Tot Papa.«
»Was machen wir? Hier gefällt es mir nicht.«
»Ins Auto«, sagt Andrea.
»Mensch«, antworte ich, »siehst du nicht, wie es mir geht? Bist du sicher? Sollen wir weiterfahren?«
»Mit dem Auto eine Runde machen bis ans Ende.«
Tja, vielleicht hat Andrea einfach zu großes Vertrauen in meine Fähigkeiten. Wahrscheinlich muss ich meine Hände am Steuer festbinden, weil mir sonst die Arme herunterrutschen, ich weiß nicht mal, ob ich auf die Bremse und die Kupplung treten kann. Was ist, wenn ein mexikanischer Elch die Fahrbahn kreuzt und ich geradeaus fahre? »Traust du dich, mit mir ins Auto zu steigen?«
Er lächelt und lächelt: unwiderstehlich. Unter äußerster Anstrengung packen wir die Rucksäcke, meine Bewegungen sind verlangsamt, und Andrea hilft mir auf seine Weise.
Ich fahre barfuß, bloß nicht eingeengt fühlen, die Klimaanlage macht die brütende Hitze erträglich. Ab und zu dreht sich Andrea zu mir hin und streichelt mein Bein. Mir ist, als käme ich wieder ein bisschen zu Kräften. Langsam fahren wir Richtung Oaxaca.
Die Straße führt
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