Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
durchs Gebirge, dreihundert Kilometer Serpentinen, mit Schlaglöchern übersät. Sechs endlose Stunden. Ich trinke den ganzen Tag nur Wasser, Andrea begnügt sich mit dem Dörrfleisch, das an der Straße an kleinen Ständen verkauft wird, eine Tortilla mit Fleisch ist doch ein ausgezeichnetes Mittagessen für ihn, finde ich.
Trotz meiner Übelkeit verläuft die Reise ruhig. Seit der Abfahrt haben wir kein einziges Wort gewechselt, und ich fühle mich, als hätten wir stundenlang gesprochen. Zwei Reisende, viele Gedanken, die jeder für sich im eigenen Kopf verfolgt, viele Blicke, die bedeuten, wir sind uns nahe, wir sind zusammen.
In Oaxaca wählen wir ein Hotel im Zentrum. Die Stadt ist voller Farben, eine Architektur, in der sich Zeit und Geschichte spiegeln. Steinerne Gebäude, große Arkaden. In den vornehmeren Wohnhäusern ist der Patio ein Garten Eden, üppig und sehr gepflegt, oft auch mit kostbaren Raritäten aus der Pflanzenwelt bestückt. Wir überqueren einige Plätze, um die Atmosphäre dieses kolonialen Mexikos zu spüren, überall sitzen Leute, es wimmelt von kleinen Ständen mit Kunsthandwerk, von Männern mit weißen Hüten, Frauen in grellbunten Kleidern, dunklen Augen, bei denen man nie weiß, wie melancholisch sie sind. Ein reges Kommen und Gehen, viele tragen Säcke auf der Schulter oder Körbe mit Hühnern und Puten, Keksschachteln und Schokoladenkringeln. Vielleicht weckt das den Appetit: Andrea verschlingt Fleisch und Kartoffeln, während ich der Kellnerin meinen Zustand erkläre. Sie lächelt, denkt nach und strahlt dann über das ganze Gesicht. Zehn Minuten später erscheint sie wieder und serviert mir eine Hühnersuppe mit Reis. Wie meine Großmutter, wenn wir als kleine Kinder krank waren: etwas Heißes, Ruhe, ein paar Streicheleinheiten.
Kopf oder Zahl
Ich fühle mich entschieden besser, die Fischvergiftung von Acapulco ist überstanden. Zehn Stunden habe ich geschlafen. Das ist lange nicht vorgekommen. Träume aller Art sind doch die beste Medizin.
Ich stehe auf und versuche, Andrea wachzurütteln, aber er bleibt liegen, wenn auch mit offenen Augen. Er ist geistesabwesend. Vielleicht hat ihn mein Unwohlsein mehr verstört, als ich dachte.
Ich krame in der Rucksacktasche und lese einen seiner Texte.
Mir scheint, du redest in diesen Tagen weniger.
durcheinander ist in meinem kopf
Was passiert, wenn in deinem Kopf Durcheinander ist?
ich sehe die wörter und kann sie nicht sagen
Machst du dir Sorgen wegen irgendetwas?
dass ich mich nicht kontrollieren kann. habe angst du hasst mich wenn ich es nicht schaffe
Nun übertreibe mal nicht mit Wörtern wie Angst und Hass. Lass uns lieber etwas dagegen unternehmen, statt uns zu beklagen.
hey papa du nicht durcheinander. mir geht es schlecht. ist nicht leicht sich als schwarzes schaf zu fühlen
Du wirst sehen, dass wir das überwinden. Ich bin immer bei dir.
danke entschuldigung. andrea will sprechen. ich kann die wörter nicht sagen. fühle mich elend
Hast du auch Schmerzen?
schmerzen im kopf
Ich streichle ihn und frage, ob er Kopfschmerzen hat.
»Nein«, antwortet er kurz angebunden.
»Geht’s dir gut?«
»Ja, gut.«
Doch als wir aus dem Hotel treten, stürmt er los, rupft überall Blätter ab und zerreißt sie in kleine Schnitzelchen, als könnte sich darin etwas verbergen.
Ich nehme ihn in die Arme und sage: »Keine Angst, ich bin wieder gesund, und wir fahren jetzt weiter. Mit dem Auto, wie du es gern magst.«
Auf dem Hauptplatz von Oaxaca breite ich unsere große Landkarte auf dem Pflaster aus und zeige ihm, wo Guatemala liegt. Wir sind so in unser Kartenstudium vertieft, dass wir ein Grüppchen Holländer anlocken. Großgewachsene junge Männer mit struppigem Bart, auch sie mit Dutzenden von Karten in der Hand. Vielleicht meinen sie, erfahrene Reisende vor sich zu haben, und wollen Tipps, wie man Mittelamerika durchquert und in die Anden hinaufkommt. Sie hätten das flache Holland satt, sagen sie, und möchten dünne, sauerstoffarme Höhenluft atmen und versuchen, auf viertausend Metern schneller zu rennen als die Indios von Bolivien. Sie lachen, denn sie wissen, dass sie keine Chance haben. Dass wir Europäer wegen unserer Lungen und unserer Beine gar nicht mit den Indios konkurrieren können. Wir wetten zwanzig Euro. Ich gegen die Holländer, aber nicht, weil ich ihnen nichts zutraue. Falls wir uns wieder begegnen, werden wir ja sehen, wie die Sache ausgegangen ist.
»Und wohin wollt ihr?«, fragen sie.
»Nach
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