Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
eingefangen, bevor sie sich in Drachen verwandelten.
Andrea hat nichts gehört, er schlief fest.
Danach habe ich auf dem kleinen Tisch in meinem Zimmer einige Fragmente von Joanas Brief zusammengefügt und auf ein Blatt Papier gelegt, darauf ein weiteres Blatt und dann noch einen Stein, damit nichts davonfliegt. Joana hat den Briefbogen beidseitig beschrieben, das hilft leider nicht. Und Andreas Manie, Papier in Briefmarken für Liliputaner zu verwandeln, ebenso wenig. Ich werde mich mit viel Geduld wappnen müssen.
Zum Frühstück gibt es Wasser, Kaffee und Kekse. Zu wenig für zwei Mannsbilder wie uns. Wir marschieren ins Zentrum von Arraial und plündern das erste barzinho , das wir finden. Sie besorgen uns zwei Stühle, und wir setzen uns auf die Straße und knabbern süßes Gebäck.
»Hast du ein neues Wort gelernt?«
»Ja.«
»Lass hören.«
»Ja.«
»Komm schon, Andre, was heißt Strand auf Portugiesisch?«
»Ja.«
»Praia!«
»Praia!«, ruft Andrea.
»Sieh mal an, du kannst sogar ein bisschen Portugiesisch!« Er grinst, und ich finde sein Lächeln wunderbar, so scheu und schlau zugleich.
Unsere Ankunft ist nicht unbemerkt geblieben, es hat sich rasch herumgesprochen, dass zwei Extrapostboten angekommen sind. Tulio, eine Art Dorfhippie, kommt auf uns zu, um uns ein selbstgemachtes Mandala zu schenken, und die Eisverkäuferin am Straßenrand eröffnet unerwartet eine Verhandlung, die Andrea zum Gegenstand hat.
»So ein schöner Junge!«
»Grünes Eis, grünes Eis!« Andrea drückt ihr als Antwort auf beide Wangen einen schmatzenden Kuss.
Die Eisverkäuferin ist hingerissen.
»Gibst du mir den Jungen?«
»Hey, wie käme ich dazu…?«
»Ich biete dir zwanzig Kilo Schokoladeneis.«
»Zwanzig Kilo…«
»Plus zehn Papaya- und fünf Guaveneis.«
»Interessant…«
»Na gut! Ich lege auch noch dreißig Kilo Eislutscher drauf.«
»Mmmm, abgemacht! Allerdings fürchte ich, dass du ihn mir schon morgen wieder zurückgibst.«
Die Eisverkäuferin sieht mich sanftmütig an: Sie würde Andrea gerne behalten, sagt sie, weil sie seine spirituelle Aura fühlt, sie sieht ihn neben dem lieben Gott sitzen.
Selig spazieren wir mit einem Eis in der Hand durch den Ort, dann strebt Andrea zielsicher ans Meer.
Der Abend in Arraial ist wunderbar: Der Platz füllt sich mit schwatzenden Menschen, manche Diskussionen klingen theatralisch, fast wie einstudiert, und doch wirkt es, als nähmen sich alle ernst. Wir bleiben eine Weile stehen und schauen zu. Dann sondiert Andrea die Lage, mischt sich unter die Grüppchen, fasst hier und da jemanden an, Schulterklopfen, wer bist du?, eine Umarmung. Odisseu kommt schnaufend angerannt, Pause in der Küche; er stellt uns Freunde und Bekannte vor und betont immer wieder, dass wir einen sehr wichtigen Brief mitgebracht haben.
»Mitgebracht, na sozusagen.« Er seufzt.
»Ich arbeite dran«, beruhige ich ihn.
Wir schütteln Nadia, Sebastião, Tadeu, Imacolada, Jojoma, Odélia, Futebòl und Reginaldo die Hand. Dann verlieren wir den Überblick.
Odisseu kehrt in sein Restaurant zurück. Kurz darauf kommt Donald, ein Kanadier, auf uns zu. Er begreift sofort, was mit Andrea los ist, seine Mutter arbeitet in einem Projekt, das sich mit Autismus beschäftigt, und er erzählt mir von einer Methode, die Schwermetalle aus dem Körper leiten soll. Bestimmt würde seine Mutter uns gerne treffen.
Die Gruppe erweitert sich, einige legen Wert darauf, ein paar giftige Bemerkungen über dieses Schwein von Alvaro Dias Barbosa loszulassen, der Joana um jeden Preis haben wollte. Er schlief vor ihrer Tür, bedrohte sie, drohte ihren Bekannten und schreckte vor keiner Schandtat zurück. Dann erzählen sie uns von Italien: Sie wissen, dass es in Europa liegt beziehungsweise dranhängt wie ein langer Schwanz, dass wir den Papst haben, Rom und Venedig, eine großartige Fußballmeisterschaft, und dann fragen sie, ob es stimmt, dass der Sänger Andrea Bocelli blind ist, oder ob er nur so tut.
»Er ist blind«, sage ich.
Jemand ist skeptisch und will eine Wette abschließen.
Lehm
Wirklich seltsam, einfach zu Fuß loszugehen und den unbewegten Hintergrund betrachten zu können, wenn man so lange immer motorisiert durch die Gegend gedüst ist. Die Fenster stehen still, ich zähle die Blütenblätter der Blumen auf dem Sims, streife ein paar Klingelknöpfe. Ich frage niemanden nach dem Weg, erwidere die Grüße der Alten, die auf den Bänken sitzen, betrete kleine Kramläden. Sie locken den
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