Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
Joana?«
Ich steige aus dem Auto, stelle mich vor. Seltsamerweise bleibt Andrea reglos auf seinem Platz sitzen.
»Ich soll Senhorita Roxana einen Brief übergeben.«
»Ich bin Odisseu, Joanas Bruder und Roxanas Großonkel. Meine Schwester hat mir die Sache am Telefon erklärt. Sie war sicher, dass Sie kommen würden.«
»Und Sie sind dauernd hier auf der Straße gesessen, um auf uns zu warten?«
»Nein, vor ein paar Tagen habe ich dieses Schild aufgestellt. Ich bin Koch in einem kleinen Restaurant und habe mich in meiner Freizeit hierhergesetzt. Heute hatte ich Glück!«
Ich gehe zurück zum Auto, suche im Rucksack nach dem Tütchen mit den Briefschnipseln und halte es ihm unter die Nase.
Ungläubig starrt der Mann auf das Häufchen Konfetti, und ich erkläre hastig, dass ich den Brief wieder zusammensetzen werde, sobald ich kann. »Mein Sohn Andrea hat ihn – wie soll ich sagen? – einfach zu sehr gewürdigt.«
»Aber davor haben Sie ihn gelesen?«, fragt der Mann, jetzt leicht gereizt. Er sieht Andrea durchdringend an – wie konnte er nur den Brief seiner Schwester zerreißen?!
»Nein«, wehre ich ab, »das hätte ich mir nie erlaubt.«
»Sie haben ihn doch nicht etwa gelesen und danach absichtlich zerrissen?« Es klingt aggressiv.
»Aber was sagen Sie da!«
»Ganz sicher? Fremde Post darf man nicht lesen!« Seine massige Gestalt richtet sich vor mir auf. Hände wie Kneifzangen, an den Füßen Schlappen, so schwer wie unsere Rucksäcke.
Er murmelt etwas, dann versucht er die Tüte an sich zu nehmen, er werde sie Roxana bringen, sagt er.
Nein, ihm eine Handvoll Schnipsel übergeben, das mache ich nicht.
»Senhor, der Brief ist doch an seinem Bestimmungsort angekommen«, drängt er.
Die Empfängerin ist Roxana. Ich bleibe stur.
Andrea, der auf seinem Beobachtungsposten die Funken sprühen sieht, macht die Autotüre auf, schießt heraus, dreht sich nach ein paar Metern um, man weiß nicht, wo er hinschaut, sein Blick streift Odisseu. Der Mann zuckt zusammen, kratzt sich an den Armen und beruhigt sich sichtlich.
»Senhor, vielleicht muss ich Ihnen ein paar Dinge erklären…«
Ich stehe in Brasilien in Arraial d’Ajuda, und ein Mann erzählt mir, dass seine Schwester Joana mit ihrer Tochter Imacolada in São Paulo wohnte. »Mit der Göre gab es von klein auf Schwierigkeiten, ständig war sie mit irgendwelchen Halunken unterwegs, mit einem hat sie sogar ein Kind gekriegt, dann ist sie verschwunden und hat das Baby, Roxana, der Mutter aufgehalst. Ich habe meine Schwester überredet hierherzukommen, und sie hat das Kind großgezogen, jetzt ist Roxana schon achtzehn, eine hübsche junge Frau…«
Roxana ist da. Ich atme auf. »Andre, Roxana ist da.«
»Warten Sie, leider ist sie genauso aufsässig wie ihre Mutter, die arme Joana musste ziemlich viel erdulden, man kann sagen, das Leben hat meiner Schwester ziemlich übel mitgespielt, und dann hat sich auch noch so ein mieser Kerl an sie rangemacht, der sie unbedingt heiraten wollte, als fünfte Frau, vier hatte er schon erledigt und wollte noch eine fünfte…«
Der Mann in Ilhéus hatte mir sogar den Namen genannt, Alvaro Dias Barbosa, aber das behalte ich für mich.
»Wegen diesem miesen Subjekt musste ich ihr zuletzt helfen, nach Panama zu ziehen, zu Freunden, die einen Job für sie gefunden hatten, von dort schickt sie weiterhin Geld für Roxana, die nichts davon wissen wollte, mit der Großmutter zu gehen. Wir haben uns alle um das Mädchen gekümmert, doch vor drei Monaten ist sie ausgerissen, nach São Paulo, weil sie, wie sie sagte, dauernd von ihrer Mutter träumte und sehen wollte, wo sie geboren ist. Seitdem haben wir nichts mehr von ihr gehört.«
»Andrea, Roxana ist nicht da!«, schreie ich.
»Niemand hat den Mut, es Joana zu sagen. Wenn sie uns anruft, behaupten wir immer, dass es dem Mädchen gutgeht, dass sie arbeitet, sie solle sich keine Sorgen machen. Junge Leute denken nicht an die Familie, das ist normal. Natürlich hoffen wir alle, dass sie wiederkommt. Wir haben Bekannte in São Paulo, die suchen nach ihr…«
Ich hebe das Plastiktütchen mit den Briefresten hoch. Mir ist, als wehte mir Joanas Gemütsverfassung daraus entgegen. Mit ihrer Hoffnung hat sie uns bis hierher gepustet.
Na gut, wir suchen uns ein Hotel, lassen uns alles noch mal durch den Kopf gehen und entscheiden, was zu tun ist. Vor allem will ich versuchen, den Brief wieder zusammenzusetzen.
Während Odisseu das Schild mit »Italia« abmontiert, sagt er,
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