Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
Kunden mit netten handgeschriebenen Schildern: »Glückstassen«, »Kauf nur, was dir gefällt«. Auf einmal möchtest du alles haben, die Händler sind freundlich, zurückhaltend, sprechen von anderem, nicht von ihrer Ware, sondern davon, was im Dorf passiert, vom Sohn des Nachbarn, von einer entlaufenen Katze, von den geheimnisvollen Booten, die am Strand aufgetaucht sind und von denen keiner weiß, wem sie gehören. Mit ihren Geschichten weben sie einen bunten Teppich, jeder steuert ein bisschen Garn bei, ein Bild, einen Schnörkel.
Wie aus dem Nichts erscheint Odisseu und fragt, ob er Andrea mitnehmen darf, er möchte ihm ein paar Jugendliche vorstellen.
»Willst du mitgehen?«
»Ja.«
Ich spule die üblichen Ermahnungen herunter: Bleib bei Odisseu, lauf nicht weg, störe nicht. Odisseu ist ein starker Mann, entschlossen und gleichzeitig doch aufmerksam. Ich vertraue ihm. Nachdenklich beobachte ich, wie die zwei nebeneinander hinter den bunten Häusern verschwinden.
Zwischen durchsichtigen Bächlein, die sich im Ozean verlieren, schlendere ich am Strand entlang.
Jetzt setze ich Roxanas Brief zusammen, sage ich mir, und dann ist Schluss, dann fahren wir heim. Ich habe die Nummer eines Reisebüros, mal hören, wie es mit einem Rückflug aussieht. So schnell gibt es keine Direktflüge. Ich hinterlasse meine Nummer, sie rufen mich zurück.
Dann trinke ich ein Bier bei Tremendão, einem Rastafari, der eine einsame Baracke bewirtschaftet und über Gott, die Frauen und die Kunst, Pommes frites zu machen, philosophiert. »Doch um wirklich etwas vom Leben, vom Kosmos und von Arthritis zu verstehen«, fügt er hinzu, »musst du unbedingt in der Lagoa Azul baden. Sie ist nicht weit von hier, du kannst auch gleich hingehen.«
Aber erst nach einem letzten Bier.
Den Beschreibungen Tremendãos folgend, gehe ich in ein zwischen Bäumen verborgenes Sträßchen hinein. Nach einer halben Stunde komme ich zu einer riesigen Höhle, wo von oben ein dünner Wasserfall herunterplätschert, der große Mengen Lehm mit sich trägt. Vor der Höhle haben sich schlammige, teilweise rötliche Pfützen gebildet, der Lehm sieht aus wie Blut, Rost und Matsch. Männer und Frauen haben sich damit eingerieben, ihre Haut wirkt rissig, grau, gepanzert wie bei Schildkröten oder Nashörnern. Manche gleichen Ziegelsteinen mit Armen und Beinen, Wesen aus Terrakotta, Tränen ohne Flüssigkeit, Lungen, denen vom vielen Seufzen die Luft ausgegangen ist.
Zärtlich umfängt einen das Wasser unter der Kaskade, es tröpfelt ganz sanft auf den Körper, rinnt leicht ölig daran herunter.
Ich möchte Leere in meinem Kopf schaffen. Stattdessen erscheint das Bild von Joana, die Andrea den Brief anvertraut. Mich überläuft eine Gänsehaut.
Schlaff wie ein zu oft gewaschener nasser Lappen kehre ich nach Arraial zurück. Odisseu und Andrea erwarten mich auf einer Bank am Rande des kleinen Platzes.
»Odisseu, ich muss dir was sagen…«
»Was?«
»Ich muss mit deiner Schwester reden, kannst du mir nicht die Telefonnummer geben?«
»Na, hab ich’s mir doch gedacht! Willst du ihr von Roxana erzählen? Willst du uns verpetzen?«
»Ich verpetze niemanden! Ich will ihr die Wahrheit sagen: dass ich den Brief nicht übergeben konnte.«
»Bravo! Und was soll sie mit deiner Wahrheit anfangen? Meinst du, sie lebt besser, wenn sie weiß, dass ihre Enkelin sich irgendwo in São Paulo rumtreibt, anstatt sich vorzustellen, dass sie hier ist? Glaubst du das wirklich?«
Ich verstumme.
»Überlass das uns…«
Odisseu fügt hinzu, dass für das Fest alles geregelt ist, Andrea hat schon eine Menge Jugendliche kennengelernt.
»Andre, gehst du wirklich auf das Fest?«
»Fest schön, Papa.«
Wir essen in Joanas Häuschen, das wir schon beinahe als das unsere empfinden. Ich habe Nudeln gekauft, eine Dose Tomaten gab es noch, und damit habe ich einen annehmbaren Sugo hingekriegt.
Wir sitzen gerade auf der Veranda und schlagen uns den Bauch voll, als ich von weitem Odisseu mit einem Mädchen daherkommen sehe. »Hey, schau mal, Andrea, wir kriegen Besuch!« Das Mädchen geht zügig und hat einen eindringlichen Blick. »Das ist Angelica«, sagt Odisseu.
Sie trägt helle Jeans, Sandalen, eine geblümte Bluse und hat kleine, feine Kinderhände. Dennoch merkt man, dass sie eine selbstbewusste junge Frau ist, in dieser Gegend wird man schnell erwachsen.
Ich drücke ihr die Hand, lade sie ein, sich zu setzen.
Angelica möchte Andrea in aller Form zu dem Strandfest
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