Wenn ich sterbe, stirbst auch du Kommissar Morry
das Dorf zu. Noch ehe er die ersten Häuser der Ortschaft erreicht hatte, begegnete er einem jungem Mädchen von so auffallender Schönheit, daß er stehenblieb. Fast unbewußt zündete er sich eine Zigarette an. Das Mädchen war hellblond; der Wind spielte mit ihrem weichen, langen Haar und wehte es über die hohe glatte Stirn. Sie besaß große graue Augen und hatte einen stolzen Gang. Patrick blickte ihr nach. Nicht zu glauben, dachte er. In solch einem elenden Nest so eine strahlende Schönheit...
Vielleicht ein Sommergast, überlegte er. Möglicherweise auch ein Mädchen, das in der versponnenen Einsamkeit des kleinen Ortes irgendeinen Liebeskummer zu vergessen sucht. Patrick ging weiter. Er konnte nicht mehr sehen, daß das Mädchen den Weg zum Steinbruch einschlug. Minuten später hatte sie das Grundstück von Oliver Marlowe erreicht. Sie zögerte eine Sekunde an der Gartentür und trat dann ein...
Der alte Mann, der sich gerade eine Pfeife stopfte, blickte ihr mißtrauisch entgegen.
„Wer sind Sie?“ fragte er, als sie vor ihm stand.
„Das wollte ich gerade Sie fragen“, erwiderte das Mädchen mit einer klaren, strengen Stimme.
Sie war gut einen Kopf größer als der Alte und trug ein blaugraues Kostüm, das sie einer Stewardeß sehr ähnlich sehen ließ. Dieser Eindruck wurde noch durch eine Hängetasche, die mit dem Namen einer bekannten Luftverkehrsgesellschaft bedruckt war, verstärkt.
„Können Sie nicht lesen?“ brummte der Alte. „Mein Name steht am Gartentor.“
„Sie sind nicht Mr. Marlowe“, erklärte das Mädchen.
Der Alte zwinkerte und befeuchtete sich die blaßrosa Lippen mit der Zunge.
„Wie können Sie das behaupten?“
„Ich kenne Mr. Marlowe.“
„Wer sind Sie?“
„Ich heiße Jamie Page.“
„Sehr angenehm, Miß. Tja..., da muß ich wohl Farbe bekennen. Ich bin bloß ein Landstreicher, müssen Sie wissen. Immer unterwegs. Ich dachte, das Grundstück sei unbewohnt; es sah so verwildert aus. Wenn Sie nicht aufgetaucht wären, hätte ich mich hier für ein paar Tage häuslich niedergelassen.“
„Wo befindet sich Mr. Marlowe?“
„Keine Ahnung, Miß. Woher soll ich das wissen? Gestern kam ich einige Male hier vorbei, um zu sehen, ob die Luft rein ist. Ich habe keinen Menschen bemerkt.“
Jamie blickte sich um. „Er muß doch in der Nähe sein! Ich habe ihm einen Brief geschrieben..., nein, eigentlich schon zwei Briefe, aber vorgestern hat er den letzten erhalten. Der Briefkasten ist leer; er muß ihn also bekommen haben.“
„Hm“, machte der Alte und zuckte mit den Schultern. „Davon ist mir nichts bekannt. Vielleicht ist das nur eine Sommerparzelle, und der Eigentümer wohnt im Ort? Na, ich verschwinde jetzt auf alle Fälle. Nichts für ungut, Miß Page.“
Er entzündete seine Pfeife, warf das Streichholz beiseite und ging dann auf das Gartentor zu.
Jamie rief plötzlich: „Hallo, warten Sie!“
Der Alte wandte sich fragend um.
„Was ist?“
„Wo haben Sie Ihr Gepäck?“ wollte Jamie wissen.
„Was für Gepäck?“
„Nicht einmal ein Landstreicher kommt ohne ein paar notwendige Kleinigkeiten aus. Führen Sie vielleicht weder einen Rucksack noch eine Tasche bei sich?“
Der Alte grinste. „Sie sind gar nicht dumm“, erwiderte er leise. „Wirklich gar nicht dumm!“
„Wer sind Sie?“
„Das habe ich Ihnen doch schon einmal gesagt ..., ich bin ein Landstreicher.“
„Sie haben doch sicher einen Namen?“
„Oh, eine ganze Menge sogar. Man nennt mich Jack oder John, aber manche Leute rufen mich auch einfach Bum.“
„Sie weichen mir aus“, stellte Jamie fest und blickte ihm ernst in die Augen. „Kennen Sie meinen Stiefvater?“
Der Alte riß die Augen auf. „Wie bitte?“
„Mr. Marlowe meine ich..., er ist mein Stiefvater.“
„Ach so, nein... ich habe nicht die geringste Ahnung, wer er ist und wo er sich aufhält.“
„Sie lügen.“
Der Alte verengte die Augenschlitze. „Was wollen Sie eigentlich?“
„Das will ich Ihnen jetzt ganz klarmachen“, erwiderte Jamie und öffnete die Umhängetasche, um ihr einen Brief zu entnehmen. „Sehen Sie her“, fuhr sie fort. „Vor über vier Wochen erhielt ich dieses merkwürdige Schreiben von Mr. Marlowe. Er führt darin aus, daß er sein Leben bedroht fühle und mich darum zu seinem alleinigen Erben bestimme.“
„Warum erzählen Sie mir das?“
„Ich bat ihn kurz nach dem Empfang des Schreibens brieflich um eine nähere Erklärung, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten.
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