Wenn nicht jetzt, wann dann?
konnte.
Sie wurde aus Hannes nicht richtig schlau.
Er war manchmal so ruppig und abweisend, richtiggehend unhöflich. Und trotzdem konnte sie ihm dafür nicht böse sein. Sie hatte das Gefühl, er war es einfach nicht mehr gewohnt, unter Menschen zu sein, vielleicht wurde es ihm manchmal auch zu viel. Eigentlich konnte sie das verstehen. Die vielen Gespräche, die sie in letzter Zeit führen musste, seit sie Liz vertrat, waren ihr eigentlich auch zu viel. So viele Worte, so viele Gefühle, ihr normales Leben war wesentlich stiller gewesen, und mitunter sehnte sie sich danach zurück. Andererseits war die Stille, die sie zusammen mit Hannes auf seiner Bank genoss, schöner als die Stille, die sie in ihrer leeren Wohnung stets umfing. Es war eine lebendigere Stille, und sie freute sich, dass sie durch den Kuchen wieder eine Gelegenheit haben würde, mit ihm zusammenzutreffen. Sie war gespannt, wie es sein würde. Es war jedes Mal überraschend anders. Und jedes Mal schön. Sehr schön.
Liz konnte ihr Glück kaum fassen. Niemals hätte sie gedacht, dass sie sich freuen würde, wenn eines Tages jemand an ihr Bett träte und ihr sagte, dass sie heute Krücken bekäme. Aber jetzt bekam sie Krücken, und sie freute sich wie ein kleines Kind über ein langersehntes Spielzeug. Sie würde sich alleine bewegen können! Sie würde – wenn man es denn so nennen wollte – laufen können!
Als der Krankenpfleger kam und ihr die Krücken brachte, um zusammen mit ihr zu üben und ihr einzubläuen, das geschiente Bein bei allem, was sie tat, auf keinen, absolut gar keinen Fall zu belasten, strahlte sie wie ein Honigkuchenpferd. Doch zu ihrem eigenen Erschrecken war sie bereits nach wenigen Schritten so erschöpft, dass sie nicht mehr wusste, wie sie den Weg zurück ins Bett bewältigen sollte.
»Wie soll ich das je schaffen? Wie schaffen das andere?«, jammerte sie unglücklich und sah den Pfleger hilflos an.
»Training, Training, Training«, antwortete er grinsend. »Muskeln vergessen schnell. Aber trösten Sie sich, sie lernen auch ungefähr genauso schnell, mit neuen Aufgaben umzugehen. Sie werden ganz schön Muckis kriegen!«
Er deutete auf ihre Oberarme, die sich anfühlten wie Pudding.
»Das ist ein kleiner Trost. Das Bein verkümmert, und meine Arme sehen dann aus wie die von Popeye. Und wie lange dauert es, bis diese Muskeln ihre neuen Aufgaben gelernt haben?«
»Das hängt von Ihrer Trainingsbereitschaft ab. Zähne zusammenbeißen und loslegen. Dann klappt’s schon.«
Liz war erstaunt, wie viele dynamische, zuversichtliche Frohnaturen sich in einem Krankenhaus versammelten. Dieser sonnige Pragmatismus war ihr ein wenig unheimlich, aber er schien zum Berufsbild zu gehören. Vielleicht lernte man das ja in der Ausbildung schon. Auf jeden Fall nahm sie sich vor, sehr, sehr viel zu trainieren. Später am Nachmittag wollte Natalie vorbeikommen, das würde sie ausnutzen, um mit ihr zusammen dieses Gebäude zum ersten Mal seit zwei Wochen zu verlassen. Ein kleiner Freigang! Bei dem Gedanken wurde sie richtig übermütig.
Als die Visite kam, fühlten sich ihre Arme noch so zittrig an, dass es ihr schwerfiel, an Fortschritte zu glauben. Hochwürden in Weiß studierte ihre Röntgenbilder, sah sich ihre Prellungen an, die nun in allen Farben schillerten, und stimmte zu, die Patientin am nächsten Tag zu entlassen. Er empfahl ihr noch einmal, wie allen anderen auch, eine stationäre Reha, aber Liz wehrte ab. Als Freiberuflerin konnte sie es sich einfach nicht leisten, ihren Laden so lange alleine zu lassen. So umständlich und unbequem es auch war, sie würde sich irgendwie durchkämpfen müssen.
»Sie haben ja bestimmt jemanden, auf dessen Hilfe Sie sich verlassen können«, sagte Simon mit einem vielsagenden Lächeln.
»Eventuell«, antwortete Liz und lächelte dabei, wie sie hoffte, ganz unverbindlich. Der Blick, den er ihr von der Tür her zuwarf, als er als Letzter der Kolonne weißbekittelter Menschen den Raum verließ, war dagegen alles andere als unverbindlich, und Liz ertappte sich Minuten später dabei, wie sie noch immer die Tür anlächelte, durch die er entschwunden war.
Als Natalie am Nachmittag kam, saß Liz schon angezogen auf dem Bettrand. Die Krücken lehnten neben ihr, und sie strahlte ihre Schwester an.
»Ausflug!«, rief sie munter. »Einmal vor die Tür nach draußen und zurück!«
»Schaffst du das denn schon? Ich kann dich ja schließlich nicht in dein Bettchen zurücktragen, falls du nicht
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