Wenn nicht jetzt, wann dann?
wiederholte Annemie. »Sie haben alles auf Zwölfertische verteilt. Es gibt dort aber Zehnertische …«
Nina spürte, wie es ihr plötzlich ein wenig die Kehle zuschnürte. Wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete und es in ihren Augen stach.
»Das darf doch nicht wahr sein«, flüsterte sie, und dieser Gedanke bezog sich eher auf die aufsteigenden Tränen als auf die Tatsache, dass ihre stundenlange Mühe umsonst gewesen war.
»Das darf doch wohl nicht wahr sein«, wiederholte sie noch einmal laut und versuchte, das Schluchzen zu unterdrücken. Als Frau Hummel ihr allerdings mitfühlend über den Rücken strich, da konnte sie nicht mehr an sich halten.
»Kindchen, das ist ja nicht so schlimm, das kann man alles wieder ändern …«
Annemie nahm Nina tröstend in den Arm, und Nina ließ sich schluchzend an ihre Schulter sinken und weinte Tränen, von denen sie gar nicht so recht wusste, woher sie eigentlich kamen. Sie spürte nur, dass es in Ordnung war, sich in den mütterlichen Armen von Annemie Hummel auszuweinen, die ihr immer wieder beruhigend über den Rücken strich und murmelte, dass alles gut war. Auch das Wort »Kindchen« fiel öfter, und es tat Nina irgendwie gut.
»Nicht dass Sie jetzt denken, ich bin ein Nervenbündel oder ein Psycho oder sonst was.«
Nina schnäuzte sich geräuschvoll die Nase in das Taschentuch, das Annemie Hummel ihr hinhielt.
»Aber das ist doch ganz normal«, sagte Annemie und lächelte sie vorsichtig an.
»Wie sehe ich aus?«, fragte Nina. »Kann ich so überhaupt ins Büro?«
»Na, vielleicht gehen Sie mal ins Bad und kühlen sich das Gesicht, und dann trinken wir ein Tässchen Kaffee. Ich habe auch noch Kuchen da. Sie werden sehen, gleich fühlen Sie sich schon besser.«
Nina ging ins Bad wie geheißen, wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, nahm dankbar das Handtuch, das Annemie ihr reichte, und kam mit noch etwas gerötetem Gesicht zurück in den Laden, wo Annemie ihr bereits eine große Tasse Milchkaffee und ein kleines Stück Kuchen hingestellt hatte. Nina schossen gleich wieder die Tränen in die Augen, und sie riss sie weit auf und atmete tief durch, um sie zu vertreiben. Noch einmal weinen war jetzt einfach nicht drin. Was sollte das überhaupt?
Nina fand es furchtbar spießig von sich selbst, aber trotzdem tat es ihr total gut, den Kuchen zu löffeln, den Milchkaffee zu trinken, und sie fand es sehr tröstend, dass etwas Süßes und etwas Warmes in ihrem Magen landete, von wo aus sich langsam ein wohliges Gefühl in ihrem Körper auszubreiten begann. Sie ließ sich sogar noch ein zweites Stück Kuchen geben, weil es an diesem Morgen schon in Ordnung war, einfach hier zu sitzen und sich von Annemie Hummel bemuttern zu lassen.
Annemie hatte das Küchenfenster weit geöffnet und summte beschwingt mit den Vögeln um die Wette, die auf dem Baum vor ihrem Küchenfenster zwitscherten. Das Wetter war wundervoll. Der Himmel war blau und ein lauer Wind wehte zum Fenster hinein und mischte sich mit dem Duft des frischgebackenen Biskuitbodens, der auf einem Küchenrost auskühlte.
Liebevoll putzte Annemie die Erdbeeren, die sie für Hannes’ Geburtstagstorte ausgesucht hatte, und sie freute sich schon auf sein überraschtes Gesicht. Sie versuchte, sich seinen Blick vorzustellen, wenn sie mit dem Erdbeerkuchen bei ihm auftauchte. Es machte sie glücklich, an sein Gesicht zu denken. An diese funkelnden dunklen Augen, die sie unter seiner Hutkrempe aus dem wettergegerbten Gesicht manchmal so lustig anblitzten. Es war schön, von diesen Augen angefunkelt zu werden.
Sein Bruder Claus hatte ganz ähnliche Augen, aber sie schauten sie aus einem anderen Gesicht heraus an. Beim genaueren Hinsehen konnte man zwar deutlich erkennen, dass die beiden Brüder waren. Doch Claus Winters Gesicht hatte weichere Züge, er war blasser und gepflegter als sein gärtnernder Bruder, der sich stets im Freien aufhielt. Claus Winter war ein Büromensch. Ein sehr eleganter Büromensch. Und überaus charmant. Er hatte sie wie eine richtige Dame behandelt, als er sie zum Essen ausgeführt hatte. Und das, obwohl sich die Winters bereits längst entschieden hatten, die Hochzeit in dem Weingut zu feiern. Und er wollte den Abend auch noch wiederholen, um sie besser kennenzulernen. Was gab es an ihr denn schon groß kennenzulernen? Sie schüttelte lächelnd den Kopf und sortierte die schönsten Erdbeeren, die sie gefunden hatte, nach Größe, damit sie den Kuchen aufs Feinste verzieren
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