Wenn nicht jetzt, wann dann?
dies zu eher nicht so erfreulichen Situationen geführt.
Ihre Mutter, Luise Zabel, war sehr jung gewesen, jung, hübsch und lebenshungrig, als sie sich 1947 in den gutaussehenden Harvey Sandrock verliebte, der ungefähr genauso jung und lebenshungrig war wie sie, und gemeinsam wollten sie möglichst schnell aufholen, was sie durch den Krieg versäumt hatten. Er versprach ihr, sie zu heiraten und sie mit nach Amerika zu nehmen als seine kleine süße deutsche Frau, und abends vor dem Spiegel übte sie den neuen Namen, den sie dann haben würde: Louise Sandrock. Sie war stolz auf den Extrabuchstaben, der sich im Amerikanischen in ihren Vornamen hineinschlich, dadurch klang ihr Name nach großer weiter Welt und Abenteuer, nach Lippenstift und Zigarettenspitzen, klang nach allem, wonach sie sich nach einer Jugend im Krieg sehnte. Doch als ihr irgendwann ständig übel war und sie ihm erzählte, dass sie offensichtlich ein Kind von ihm erwartete, da wurde er sehr plötzlich nach Amerika versetzt. Er versicherte ihr noch beim Abschied mit einem treuen Blick aus seinen tiefblauen Augen, dass er sie bald, sehr bald schon nachholen würde. Er würde gleich eine schöne Wohnung für sie suchen, er würde seinen Eltern von ihr erzählen und eine tolle Hochzeit vorbereiten. Sobald alles fertig war, würde er ihr ein Ticket schicken, damit sie schnell in seine Arme fliegen könnte. Dieser Zeitpunkt kam natürlich nie. Nach einigen Wochen des Wartens dämmerte es Luise, dass sie mit einem Kind sitzengelassen worden war, und ihre ganze Vorfreude auf das gelobte Land jenseits des großen Teiches, voller Hershey’s Chocolate Bars und starker Zigaretten, und auf ihr Leben an Harveys Seite als Louise Sandrock verwandelte sich Tag für Tag in immer schärfere Bitterkeit, die geballt auf Annemie niederprasselte, als sie unschuldig und ahnungslos das Licht der Welt erblickte, in der sie so wenig erwünscht war.
Annemie war ein süßes Baby, doch für ihre Mutter war sie der fleischgewordene Beweis für ihre eigene Dummheit und obendrein der Grund, warum ihr Leben von nun an verpfuscht war. Welcher Mann, der auf sich hielt, wollte schon eine Frau, der ein Balg angehängt worden war? Außerdem war Annemie ein Mädchen. Noch nicht einmal einen Jungen hielt das Schicksal für sie bereit. Stattdessen ein Mädchen, dem sie dabei zuschauen würde, wie es entweder die Fehler vermied, die seine Mutter gemacht hatte, und es deshalb viel besser haben würde als sie, was Luise bis an ihr Lebensende mit ansehen müsste, oder ein Mädchen, das genau die gleichen Fehler machte und ihr damit ewig einen Spiegel vorhalten würde. Luise hatte sich gar keine Gedanken gemacht, welchen Namen sie einem Mädchen geben könnte. Als die Hebamme sie fragte, wie sie ihre Tochter denn nennen wolle, fragte Luise in Ermangelung einer Idee die Hebamme, wie sie denn hieße, und gab ihrer kleinen Tochter den Namen der Frau, die geholfen hatte, sie zur Welt zu bringen: Annemarie. Sie fütterte und wickelte sie und zog sie an. Sie tat alles, was nötig war, um ein Kind zu versorgen. Aber kein bisschen mehr. Annemies Hunger wurde gestillt, doch ihr Lieblingsessen wurde nicht für sie gekocht, sie bekam Kleider, die sie warm hielten, doch sie wurde nicht danach gefragt, was ihr besonders gut gefiel, oder danach, was ihr besonders gut stand. Und so lernte sie bald, dass es am besten war, gar nicht aufzufallen. Wenn man sie nicht hörte und sie sich möglichst unsichtbar machte. Der Unmut von Luise Zabel war unberechenbar, und es war besser, das hatte Annemarie früh gelernt, ihn nicht auch noch durch auffälliges Verhalten auf sich zu ziehen.
Mit sechs Jahren war Annemarie, die ihren Namen, während sie Sprechen lernte, selbst zu Annemie verkürzt hatte, bereits eine kleine Meisterin darin geworden, sich unsichtbar zu machen. Und die Beherrschung genau dieser Kunst wurde ihr zum Problem, als sie in die Schule kam. Wenn sie in der Klasse nicht auffiel, bekam sie keine guten Noten. Wenn sie aber keine guten Noten hatte, bekam sie wiederum Probleme mit ihrer Mutter. Genau das wollte Annemie aber doch unbedingt vermeiden. Es war ihr ein großes Rätsel, wie sie nur halbwegs unbeschadet und mit der richtigen Dosierung von auffälliger Unauffälligkeit durch die Schulzeit kommen würde.
Auch mit den anderen Kindern konnte sie sich nie so richtig anfreunden. Manche wollten ganz offensichtlich nichts mit ihr zu tun haben, weil es in den adretten fünfziger Jahren genug Eltern
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