Wenn nicht jetzt, wann dann?
dreimal zur Schwester hatte laufen müssen, um nach Papier zu fragen, auf dem sie gemeinsam Listen anlegten mit allem, was dringend zu erledigen war, mit Namen und Besonderheiten, auf die sie achten musste, machte sich Annemie wieder bereit zu gehen. Als sie ihren Mantel übergezogen hatte und schüchtern die Hand erhob, um Liz zu winken, streckte Liz ihr beide Hände entgegen, so dass sie etwas näher zu ihr treten musste. Liz ergriff ihre Hand und hielt sie ganz fest.
»Danke, Frau Hummel«, sagte sie leise. »Vielen Dank.«
Und Annemie, deren Hand heute zwar viele andere gedrückt hatte, spürte, wie genau von diesem Händedruck eine warme Linie ihren Arm hinaufkrabbelte und ihr Herz erreichte, das gleich etwas schneller schlug.
Als Annemie das Zimmer verließ, hatte sich dieses Gefühl kribbelnder Wärme überall in ihr ausgebreitet und ihr wurde davon etwas schwindelig. In der Nähe des Aufzugs war eine Besucherecke eingerichtet, und sie ließ sich auf einen leeren Stuhl sinken, um erst einmal durchzuatmen. Es fiel ihr richtig schwer zu atmen. Ihr Herz schien so angeschwollen zu sein, dass ihre Lungenflügel Schwierigkeiten hatten, sich für jeden neuen Atemzug auszudehnen. Ich muss erschöpft sein, dachte sie. Das war ja auch alles etwas viel für einen Tag. Und vor allem würde es morgen nicht unbedingt weniger aufregend werden. Was sie alles erledigen musste! Aber Erschöpfung fühlte sich eigentlich anders an. Da schlug das Herz nicht ganz so schnell und laut. Da schlug es doch eher müde und matt. Sie versuchte gerade tief Luft zu holen, als eine Stimme sie ansprach.
»Alles in Ordnung? Kann ich Ihnen helfen?« Als Annemie aufsah, blickte sie in das freundliche Gesicht einer Schwester und seufzte.
»Mein Herz schlägt grad ein bisschen schnell …«
Sie schaute hilfesuchend zu der Schwester, die gleich ein Messgerät aus der Kitteltasche zog, um ihren Blutdruck zu messen. Innerhalb weniger Sekunden hatte die Schwester die Manschette um den Oberarm geschlungen und pumpte sie auf. Und mit dem plötzlichen Druck an ihrem Oberarm kamen die Erinnerungen. Mit einem Mal wusste sie, warum ihr Herz raste, warum ihr schwindelig war und warum so viel Gefühl in aufgewühlten Wellen durch sie hindurchwogte.
»Machen Sie sich keine Sorgen, Puls und Blutdruck sind ein bisschen erhöht, aber nicht schlimm. Ich bringe Ihnen mal ein Glas Wasser, bleiben Sie einen Moment sitzen, dann geht es Ihnen gleich wieder besser.«
Sie nickte fast mechanisch. Die Stimme der Schwester drang wie durch einen Schleier zu Annemie, die plötzlich zweiundvierzig Jahre zurückkatapultiert worden war. Diese Manschette, die ihr den Oberarm abschnürte. Es gab Schwestern, die pumpten einfach drauflos, bis es nicht mehr ging, so dass man schon glaubte, der Arm würde mit Sicherheit jeden Augenblick absterben. Und es gab Schwestern, die hörten auf, bevor es richtig unangenehm wurde. Als sie vor zweiundvierzig Jahren im Krankenhaus gewesen war, da hatten die Blutdruckmessungen zweimal täglich dazugehört. Sie hatte die Manschettenpumpgewohnheiten jeder einzelnen Schwester gekannt, die morgens und abends an ihr Bett getreten waren und ihr signalisierten, dass die Nacht vorbei war oder der Tag. Je nachdem. Die Zeit war zerflossen in ein einziges Elend, in dem sie in einem Zimmer lag, das Liz’ Zimmer, das sie gerade verlassen hatte, durchaus ähnelte. Krankenhauszimmer ähnelten sich. Manche hatten Rollos, manche hatten Vorhänge. Alle hatten verstellbare Betten und einen Notrufknopf. Und alle hatten weiße Bettwäsche, auf denen Blut besonders rot wirkte. Noch viel röter als sonst.
Annemie legte den Kopf nach hinten und schloss für einen Moment die Augen. Sie hatte heute schon einmal daran gedacht und hatte es geschafft, die Erinnerung wieder wegzupacken in das kleine Kästchen auf dem Grunde ihrer Seele, wohin es damals gesunken war in all seiner Schwere. Jeden Tag ein bisschen tiefer. Sie hatte nicht vorgehabt, es jemals wieder zu öffnen. Doch aus irgendeinem Grund hatte dieser Tag es wieder aufsteigen lassen und den Deckel etwas angehoben. Und aus irgendeinem Grund hatte es sich nicht wieder richtig verschließen lassen.
Eine Pflanze kann sich nur so entwickeln,
wie ihre Umgebung es zulässt.
4
A nnemie war schon immer schüchtern gewesen. Bereits als kleines Mädchen hatte sie gelernt, dass man brave Mädchen nur sah, aber nicht hörte, dass es am besten war, gar nicht bemerkt zu werden, denn wenn sie bemerkt wurde, dann hatte
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