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Wenn nicht jetzt, wann dann?

Titel: Wenn nicht jetzt, wann dann? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Ruppert
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gab, die ihnen den Umgang mit einem »Balg« verbaten und nicht schön über ihre Mutter sprachen. Andere übersahen sie schlichtweg, weil sie tatsächlich einen effektiven Weg gefunden hatte, unsichtbar zu sein.
    Sobald die Schule aus war, verließ sie das Schulgebäude sehr schnell, um noch vor allen anderen auf dem Heimweg zu sein und deshalb nicht allzu deutlich vor Augen geführt zu bekommen, dass alle anderen zu zweit oder zu dritt nach Hause gingen. Im Gegensatz zu ihr, die immer alleine ging. Bis Luise spätnachmittags von der Arbeit heimkam, war Annemie auch zu Hause alleine. Doch genau diese Stunden liebte Annemie. Kaum zu Hause angekommen, warf sie ihren Ranzen in die Ecke, wärmte sich die Reste vom Vortag auf, und während sie aß, las sie in dem Buch, das sie sich aus der Kinderbibliothek ausgeliehen hatte. Dann spülte sie das Geschirr, das noch vom Frühstück im Spülstein stand, wischte den Tisch ab und breitete ihre Hefte darauf aus, um Hausaufgaben zu machen. Wenn das getan war, blieben ihr meistens noch ein, zwei Stunden, bis ihre Mutter von der Arbeit kam. In dieser Zeit spielte sie, sie hätte ein anderes Leben. Manchmal begann das Spiel schon vorher, schon beim Mittagessen oder beim Erledigen der Hausaufgaben. Richtig frei war sie aber stets erst dann, wenn alles getan war, was getan werden musste. Sie spielte, dass sie eine Mutter hätte, die schon ungeduldig auf sie wartete und sie nach der Schule ausfragte, während sie das Essen auf den Tisch stellte.
    »Hier mein Schatz, iss!«, sagte sie dann als Mutter zu ihrer imaginären Tochter. »Ich habe extra dein Lieblingsessen für dich gekocht.«
    Oder sie spielte, dass sie Geschwister hätte, große und kleine, und dass es lebendig und lustig zuging. Doch manchmal war sie nach der Schule zu müde, um all die verschiedenen Rollen zu spielen. Dann spielte sie, ihre Mutter wäre tot und sie würde es keinem sagen, damit sie nicht in ein Heim müsste. Sie würde einfach weiter in der Wohnung bleiben, alleine und ungestört, und spielen, solange sie wollte.
    Am allerliebsten spielte sie Ehefrau. In diesem Spiel hatte sie einen netten Ehemann, der ihr von seinem Tag erzählte, und sie erzählte von ihrem Tag, sie kochte Essen für ihn und dann aßen sie gemeinsam und lächelten sich dabei verliebt an. Annemie hatte durch die niemals versiegenden Tiraden ihrer Mutter bereits früh verstanden, dass alles anders gekommen wäre, wenn es im Leben von Luise Zabel erst eine Hochzeit und einen Ehemann gegeben hätte. Und dann erst Annemie. Also war das Ehefrau-Ehemann-Spiel so etwas wie eine Übung fürs Leben, denn anscheinend lag allein darin die Voraussetzung dafür, dass alles gut werden konnte.
    Als Annemie etwa neun oder zehn Jahre alt war, sprach Konstanze Ansbach aus ihrer Klasse sie an und fragte, ob sie mal mit zu ihr nach Hause kommen wolle nach der Schule. Konstanzes Mutter meinte, sie solle doch ihre Mutter fragen, ob sie es erlaube. Annemie nickte und fragte. Luise erlaubte es, ermahnte sie aber mehrmals, sich gut zu benehmen und ihr keine Schande zu machen. Als es so weit war, gingen Konstanze und sie zusammen einen Heimweg, den sie noch nicht kannte. Gingen andere Straßen, an anderen Zäunen und anderen Grundstücken entlang. Annemie schwieg. Sie wusste nicht, über was man so reden könnte, wenn man gemeinsam nach Hause ging. Konstanze hatte dann den Anfang gemacht und ihr gesagt, sie beneide sie so, ganz hinten im Alphabet zu stehen, sie mit dem blöden Ansbach käme immer als Erste dran und müsse immer alles wissen. Das sei blöd. Annemie, die noch nie das Gefühl gehabt hatte, dass man sie um irgendetwas beneiden könnte, war plötzlich richtig stolz auf den Namen Zabel. Davon ermutigt fragte sie Konstanze nach ihrem Lieblingsfach, und dann fragte Konstanze Annemie nach ihrem Lieblingsfach und sie wiederholten das Spiel des gegenseitigen Ausfragens so lange, bis sie selbst schallend darüber lachen mussten. Konstanzes Schulweg war etwas weiter als ihrer, und als sie ankamen, hatte Annemie richtig Hunger.
    Margot Ansbach war hübsch, und sie begrüßte die beiden Mädchen herzlich, als sie die Tür öffnete. Konstanze bekam einen Kuss und Annemie wurde mit beiden Händen in die kleine Wohnung gezogen.
    »Und du bist also Annemie mit dem Z im Nachnamen. Schön, dass du uns besuchst und ich dich auch mal kennenlerne. Konstanze erzählt oft von dir.«
    Bevor Annemie rot wurde, weil sie sich nicht vorstellen konnte, was es denn von ihr zu

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