Wenn nicht jetzt, wann dann?
überschüttete sie ihn mit Vorwürfen, was er alles falsch machte, wenn er nach Hause kam. Er stellte seine Schuhe an der falschen Stelle ab, er pürierte den Brei nicht fein genug, er zog Leonie eine viel zu dünne Jacke an, er sang die falschen Schlaflieder. Es kam so weit, dass er sich schon auf die Nächte freute, in denen er Dienst hatte, weil er da im Durchschnitt wenigstens zwei, drei Stunden einmal gar nichts machen musste, sondern in Ruhe vor dem Fernseher sitzen und seine Pizza aus dem Karton essen konnte, und vor allem: weil er dabei nichts falsch machte.
Zu Beginn hatte er viel Mitgefühl für Sandras Situation gehabt, dass sie keinen Job fand und sie sich deshalb die Kinderzeit nicht teilen konnten, weil sie schließlich von seinem Geld lebten. Er konnte es verstehen, wenn sie ihm beschrieb, dass sie sich oft so angebunden fühlte durch Leonie, durch ihre Schlaf- und Wach- und Essenszeiten, durch den Haushalt und das ständige Zu-Hause-Sein, und er half ihr gerne und immer, so wie es seine Arbeit eben zuließ. Aber irgendwann merkte er, dass er sich rechtfertigen musste für seine Arbeitszeiten, obwohl sie von dem Geld lebten, das er in dieser Zeit verdiente, und er begann sich schlecht zu fühlen. Er fand es schrecklich ungerecht, dass er in der Klinik durch sein Arbeitspensum hetzte und abends beim Nachhausekommen sofort Kind und Haushalt und Abendessen zu übernehmen hatte, damit Sandra auch mal frei hatte. Wann hatte er eigentlich mal frei? Jetzt fiel es ihm wieder ein: Die große Krise begann, als er anfing zu joggen. »Jetzt sag bloß, du willst auch noch jeden Tag laufen gehen? Da bist du ja noch eine Stunde länger weg! Da kannst du auch gleich ganz wegbleiben.« Sandra hatte empört dagegen gekämpft. Jedes Argument seinerseits, dass er das als Ausgleich brauchte, dass sie auch zusammen laufen könnten, dass er Leonie in einem Joggerwagen beim Laufen vor sich herschieben würde, hatte sie wütend vom Tisch gefegt. Nach Monaten zermürbender Streitereien und Auseinandersetzungen, die zu nichts führten, außer dazu, dass sie sich immer fremder wurden, hatte er letztlich genau das getan, was sie selbst vorgeschlagen hatte: Er war ganz weggeblieben.
Anfangs hatte er gehofft, dass sie sich über etwas Distanz im Alltag wieder annähern könnten, dass ihr gegenseitiges Verständnis füreinander wieder wachsen würde, aber das alles war nicht eingetreten. Er hatte sich oft gewünscht, er könnte ihr das Gefühl nehmen, sich durch Leonie so benachteiligt und beeinträchtigt und nutzlos zu fühlen. Doch irgendetwas in Sandra war grundunzufrieden mit allem, und auch nach der Trennung blieb es schwierig. Das Einzige, was für ihn leichter wurde, war, dass er mehr freie Abende hatte. Denn wenn Leonie nicht bei ihm war und er keinen Dienst in der Klinik hatte, dann hatte er tatsächlich einen ganzen Abend ganz für sich. Konnte laufen gehen, ohne sich rechtfertigen zu müssen, konnte in Ruhe Fußball gucken oder sogar mal einen Kinobesuch einlegen. Es war nicht so, dass er sich dieses Leben gewünscht hätte. Gewünscht hatte er sich etwas anderes. Gewünscht hatte er sich eine Familie. Mit allen Hochs und Tiefs. Aber die Familie, die er gegründet hatte, war nicht die, die er sich gewünscht hatte, und anscheinend auch nicht die, die Sandra sich gewünscht hatte, und aus eigener Kraft hatte er es nicht hinbekommen, alles so zu verändern, dass sie eine glückliche Familie werden und bleiben konnten. Sein Plan von Familie war gescheitert. Und deshalb fühlte er sich an den Abenden, an denen er in Ruhe alleine Fußball gucken konnte, auch immer verdammt einsam.
Simon drückte auf den Klingelknopf und hörte den vertrauten Dreiklang, den sie gemeinsam ausgesucht hatten. Sie hatten viel gemeinsam ausgesucht, und all das befand sich nun in diesem Haus, in dem er behandelt wurde wie ein unerwünschter Gast. Die Schritte näherten sich der Tür, und Sandra öffnete. Nach einem knappen Hallo sah sie auf die Uhr und dann vorwurfsvoll zu ihm. Sie hatten sechs Uhr vereinbart, und es war drei Minuten nach sechs. Simon ließ ihren Unmut an sich abperlen und fragte, wie es Leonie ging, ob etwas Besonderes anstünde, ob er an etwas Bestimmtes denken musste? Sie schüttelte nur den Kopf und rief Leonie, die das Klingeln schon gehört hatte und um die Ecke gelaufen kam.
Leonie strahlte ihn an, so dass ihm ganz weich ums Herz wurde, doch sie drückte sich noch ein wenig an der Wand entlang und kam nicht direkt auf ihn
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