Wenn nicht jetzt, wann dann?
sich, wenn sie Witze riss, wenn sie schlagfertig war und vor Energie sprühte, er sah sie vor sich, wenn sie ängstlich war, weil sie besorgt war, dass eine Untersuchung weh tun könnte, dass ihr Bein nicht mehr gut heilte oder dass sie ihre anscheinend große Sammlung an Stöckelschuhen nicht mehr tragen könnte. Er sah sie vor sich, wenn sie zerbrechlich wirkte, wenn das zum Vorschein trat, was sich hinter ihrer fröhlichen Burschikosität und Schnoddrigkeit versteckte und ihm direkt ans Herz ging. Er sah sie vor sich, wenn sie errötete, weil er ihr ein Kompliment machte oder sehr eindeutig erklärte, dass er sie ziemlich gut fand. Und er glaubte, in ihren Augen dann auch einen Funken dessen zu sehen, was ihn entzündet hatte. Er traute sich gar nicht, das Wort »Liebe« auch nur zu denken. Er versuchte es mit Verliebtsein, Schwärmerei, Einander-gut-finden, ja Flirt, für sich zu umschreiben, aber er wusste ganz genau, dass es mehr war. Er hatte nur so lange, lange nichts Derartiges empfunden. Und er hatte so lange fest geglaubt, nie wieder etwas Derartiges empfinden zu können oder auch nur zu wollen. Aber es ging total mit ihm durch. Und jetzt war sie auch noch selbst ein Scheidungskind und hätte vielleicht auch noch das nötige Verständnis für sein kleines Scheidungskind. Denn das war klar, er würde nie etwas tun können, was Leonies Gefühlswelt irgendwie Schaden zufügte. Davon hatte sie in ihrem kleinen Leben schon mehr als genug abbekommen.
Wie immer es auch weiterging, Leonie brauchte davon zunächst einmal gar nichts zu erfahren. Und auch Liz wollte er nicht mit seiner Geschichte belasten. Es war schwer genug, dieses ausweichende Wesen zu erreichen. Sie war sehr misstrauisch. Zögerlich und misstrauisch, ob er nicht doch ein Casanova war, der mit jeder Patientin flirtete. Mittlerweile dachte sie wahrscheinlich schon nicht mehr, dass er mit jeder flirtete, aber doch mit jeder zehnten, das traute sie ihm vermutlich noch zu. Er spürte, wie er sie aus der Reserve locken konnte, aber er nahm auch deutlich wahr, wie blitzschnell sie in der Lage war, eine feste Wand zwischen ihnen zu errichten, wenn er zu forsch war oder wenn seine ihn anschmachtenden Kolleginnen ihn umgaben. Er würde ihr im Moment lieber nichts erzählen, was zur Festigkeit und Höhe dieser Mauer beitrug, viel lieber wollte er alles dafür tun, damit sie Stein um Stein abgetragen werden konnte.
Als er am Kindergarten ankam, stand Leonie schon in ihrem roten Anorak mit ein paar anderen Kindern und den Erzieherinnen im Hof. Sie lief strahlend auf ihn zu, und sein Herz hüpfte wie immer, wenn er sie sah.
»Gehen wir Eis essen?«, fragte er sie, als er sie in den Kindersitz auf seinem Gepäckträger hob und festschnallte.
»Ojaojaoja!«
Sie quietschte fröhlich, und er fuhr los, etwas vorsichtiger als zuvor, etwas langsamer und auch noch etwas glücklicher. Das Leben fühlte sich einfach richtiger an, wenn seine Tochter mit ihm zusammen war.
Die beiden gingen mit ihrem Eis in den Park und setzten sich auf eine Bank am Ententeich, um zu schauen, ob schon kleine Entchen geschlüpft waren. Simon erklärte ihr, dass die Weibchen die braunen Federn hatten und die Männchen die schillernden, farbigen Federn besaßen, anders als bei den Menschen. Leonie kicherte und stellte sich vor, dass ihre Mama in langweiligen braunen Klamotten herumlief, während ihr Vater sich herausputzte und blau schillernde Jacken anzog, um ein Weibchen zu finden.
»Findest du auch wieder ein Weibchen?«, fragte sie ihn, und er dachte, dass das ein phänomenaler Zufall war, dass er gerade dabei war, sich zu verlieben, und seine Tochter, die die ganze Zeit seit der Trennung nie irgendetwas Derartiges gefragt hatte, gerade jetzt davon anfing.
»Wer weiß«, antwortete er. »Wie fändest du das denn?«
»Sie muss nett sein.«
»Meinst du, ich würde jemanden suchen, der nicht nett wäre?«
»Der Papa von der Josi hat auch eine Freundin, die ist nicht so nett, findet die Josi.«
Aha, daher wehte der Wind.
»Also ich würde nur nach jemandem schauen, der sehr, sehr nett ist, da brauchst du dir wirklich keine Sorgen zu machen.«
»Oder gar niemanden. Du hast ja mich. Ich kann ja deine Freundin sein.«
Sie kuschelte sich an ihn, und er legte den Arm um sie. »Du bist meine Lieblingstochter. Zum Glück habe ich dich, mein Schatz.«
Auf dem Teich stritten sich zwei Enteriche ganz fürchterlich, und die Ente, die vorher friedlich neben ihrem Erpel hergeschwommen war,
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