Wenn nicht jetzt, wann dann?
verliert. Und die Mutter eigentlich auch. Denn die Mutter, die wir bis zu dem Tag gekannt hatten, die gibt es seitdem nicht mehr. Und deshalb ist es furchtbar anstrengend, wenn sie kommt, aber genau deshalb kümmern meine Schwester und ich uns eben immer noch um sie. Wir atmen tief durch und bleiben freundlich. Seit sechsundzwanzig Jahren, um genau zu sein.«
»Das ist eine lange Zeit.«
»Ja.« Liz seufzte. »Aber das ist alles heute leichter, als es das für das achtjährige Mädchen war.«
»Das stimmt wahrscheinlich auch, dass es heute leichter ist«, sagte Simon Friedrich. »Aber vielleicht würde es Ihnen auch heute einfach mal richtig guttun, bemuttert zu werden.«
Simon lächelte sie an, und sie dachte ja, ja, ja. Und dann hielt sie ganz still, denn in Liz tobten die unterschiedlichsten Gefühle, und sie wollte unbedingt verhindern, dass auch nur eines davon nach außen drang. Sie hatte lange nicht von ihren Eltern und dem Silver Jubilee gesprochen, und ihr war gar nicht bewusst, dass es noch immer weh tat. Ja, verdammt noch mal, sie wollte gerne bemuttert werden, versorgt werden, jemanden haben, der sich um sie kümmerte. Aber das würde sie doch niemals zugeben. Sie kämpfte mit den Tränen, weil sie Simons Mitgefühl spürte und sich dadurch plötzlich selbst schrecklich leidtat. Und sie spürte, dass sie sich zwar am liebsten an ihn angelehnt hätte, um von ihm festgehalten zu werden, aber das gleichzeitige Schrillen aller Alarmglocken in ihrem Kopf machte das unmöglich. Hätte sie laufen können, sie hätte sofort ihre Schuhe angezogen, um schleunigst die Flucht zu ergreifen.
Hannes Winter war selbst erstaunt darüber, dass er sich freute, als er sie durch die frischgeschnittenen Büsche auf sich zukommen sah. Von weitem konnte er das Blau ihrer Augen nicht sehen, früher hätte er es vielleicht gekonnt, aber in den letzten Jahren hatte seine Sehschärfe ein wenig nachgelassen. Er konnte es jedoch erahnen. Er konnte das Blau ihrer Augen ahnen. Die letzten Tage hatte er die kleinen Sämlinge pikiert, eine Arbeit, die eine ruhige, konzentrierte, geschickte Hand erforderte, aber gleichzeitig so stumpfsinnig war, dass man währenddessen wunderbar nachdenken konnte. Er hatte dabei oft an sie gedacht und gegrübelt, warum sie ihn bloß so beschäftigte. Es gab mehrere Möglichkeiten. Während er die Kornblumen umsetzte, hatte er darüber nachgedacht, dass es die Erinnerung an Evelyns Augen war, die Erinnerung an seine große verlorene Liebe. Als er sich den Ringelblumen widmete, hatte er auch in Erwägung gezogen, dass allein die Tatsache, dass ein Mensch überhaupt zu ihm hierhergekommen war, sich nicht sofort in die Flucht hatte schlagen lassen und ihm sogar mit einer gewissen Hartnäckigkeit Fragen gestellt hatte, sich auf ihn ausgewirkt haben musste. Als er später den Rittersporn, der bereits zu knospen begann, ins Freiland umsetzte, dachte er über die seltsamen Themen nach, über die sie gesprochen hatten. Wie waren sie überhaupt auf Liebe gekommen? Ach ja, die Hochzeit. Wegen dieser Hochzeit, für die sie ihn unbedingt gewinnen wollte. Wie war sie bloß auf ihn gekommen? Gerade er, der Hochzeiten hasste, seitdem es für ihn nie eine gegeben hatte. Er und Brautsträuße!
Deswegen war sie wahrscheinlich wieder da. Er beobachtete, wie sie auf ihn zukam, und blinzelte gegen das Licht. Ihr Schritt war etwas zögernd. Sie wusste nicht, dass sie willkommen war. So ruppig war er über die Jahre geworden, so eigenbrötlerisch und unhöflich, dass er Menschen wie sie verunsicherte. Es gefiel ihm nicht, zu wem er geworden war. Er ging ein paar Schritte auf sie zu und rief ihr freundlich entgegen: »Haben Sie die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben?«
»Nicht ganz«, lächelte sie. »Bin ich denn umsonst gekommen?«
»Was heißt schon ›umsonst‹, Sie sehen diesen Garten, dafür lohnt es sich doch, oder, Frau –? Wie heißen Sie eigentlich?«
»Hummel, Annemie Hummel.«
»Hummeln passen gut zu Blumen. Finden Sie nicht? Frau Hummel im Garten!«
»Sie machen sich über mich lustig.«
Ihre Augen veränderten die Farbe, sie schimmerten etwas dunkler blau, als sie dies sagte, und er schaute dem kleinen Schauspiel sehr interessiert zu.
»Überhaupt nicht. Könnten Sie kurz mit mir zu den Hortensien gehen? Ich brauche einen Blau-Abgleich.«
Sie starrte ihn an, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank, wahrscheinlich hatte sie damit sogar recht, doch genau dieses dunkle Blau, da war er sicher,
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