Wenn nur noch Asche bleibt
küsste seinen Hals. „Vergiss sie. Sie wird dir nur wehtun. Sie hat dich nicht verdient.“
Ihm wurde schwindelig. Das Dojo nahm absurde Formen an. Es zerfloss und tanzte wie ein lebendes Wesen. Nikolais Hände waren überall. Mehrmals lehnte er sich dagegen auf, ohne dass seine Gliedmaßen gehorchten, bis er es endlich schaffte. Matt stieß er die Arme des Jungen weg und spürte, wie sein Körper ein paar Schritte zur Seite taumelte.
„Fass mich nicht an. Verschwinde. Mach, dass du wegkommst.“
Daniel stieß die Worte kraftlos aus und sank gegen die Wand. Er wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Alles drehte sich, inklusive seines Magens. Wieder und wieder fielen ihm die Augenlider zu, doch er durfte nicht nachgeben. Zuerst hielt er Nikolais Silhouette, die über ihm aufragte, für eine weitere Illusion. Denn sie hielt ein Schwert umklammert. Sein kostbarstes Katana.
„Du hättest die Wahl gehabt.“ Die Stimme des Jungen war von schneidender Kälte. „Ich hätte dich retten können. Aber wenn du mir nicht gehörst, sollst du niemandem gehören. Wir sehen uns wieder. In der anderen Welt.“
Die Klinge stieß auf ihn herab und durchbohrte ihn in der Mitte. Seltsam, da war kein Schmerz. Nur pulsierende Wärme, die seinen Körper verließ, als das Schwert zurückgezogen wurde. Ungläubig starrte Daniel auf die sich ausbreitende Pfütze seines eigenen Blutes. Das war keine Illusion. Alles, was er fühlte, war echt. Nikolais Finger strichen über sein Gesicht und seine Brust, als er langsam zu Boden sank. Die Dunkelheit kam schnell. Es war unmöglich, sich gegen ihren Sog zu wehren. Wieder hob der Junge das Schwert. Diesmal, um zu einem Schlag auszuholen, der ihm den Kopf abtrennte.
Elena war erleichtert, als der hilfsbereite Sergeant samt seiner Limousine in der Nacht verschwand. So nett er auch sein mochte, die Tatsache, dass er sich ohne Unterlass in Plauderlaune zu befinden schien, ging ihr gehörig auf den Keks. Anfangs hatte sie sich mit freundlichen Ja’s und Hm’s behelfen können, doch das war dem Sergeant bald zu langweilig geworden. Dem belanglosen Geplapper waren Fragen gefolgt. Ebenso belanglos, lediglich darauf ausgerichtet, sie und vor allem sich selbst zu unterhalten.
Hätte die Fahrt auch nur zehn Minuten länger gedauert, wäre ihr mit Sicherheit ein „Schnauze halten“ entfleucht.
Wie angenehm gestaltete sich doch dagegen die Nähe eines Misanthropen. Sie sehnte sich nach Daniel in einem Ausmaß, das ihr die Luft abschnürte. Mit Sicherheit ging es ihm beschissen. Aber das beruhte auf Gegenseitigkeit. Eine kleine Auszeit … nein, eher eine große Auszeit, genau das brauchten sie. Zu viel war geschehen, das sie verarbeiten mussten. Aber da ein Psychopath ihrer Spur hinterherhechelte, gehörte ein körperlicher und geistiger Urlaub in den Bereich der Wunschträume. Sei es drum. Wenn ihr auch nur eine ruhige Stunde mit dem Mönch gegönnt war, würde sie dankbar sein.
Ihr saß der Schrecken noch im Nacken, sie fühlte sich ausgelaugt und erschöpft wie eine blasse Kopie ihrer selbst, aber ihm hatte die ganze Sache aus weit persönlicheren Gründen stark zugesetzt. Der einzige, sterbliche Überrest seiner Frau war ein verkohltes Knochenstückchen. Eine tragische Geschichte. Sie musste ihn ablenken und trösten. Irgendwie. Auch wenn dergleichen nicht zu ihren Spezialitäten zählte. Dass sie das Wunder seiner Kraft und diese ganze Kristallgeschichte nach wie vor nicht begriff, war zweitrangig. Er brauchte sie. Nur das zählte.
Ein Schatten huschte über die Wand des Flurs, als Elena das Haus betrat. Der Schreck fuhr ihr gehörig in die Knochen. Mit gezücktem Revolver setzte sie einen Schritt vor den anderen. Was, wenn nicht Daniel hier auf sie wartete?
„Hallo?“ Gähnende Leere empfing sie, doch im Dojo brannte das Feuer in der Messingschale. „Ich bin’s. Bist du hier?“
Sie sprach sich Mut zu und ging weiter, die Sinne bis zum Zerreißen angespannt. Dann betrat sie den Trainingsraum. Es roch seltsam. Irgendwie süß und metallisch. Es roch nach …
„Scheiße!“
Binnen eines Atemzuges war sie bei Daniel und ging vor ihm in die Knie. Zitternd lag er in der Ecke neben der Fensterwand. Seine Haut war kalt und schweißfeucht, was kaum verwunderte, denn er lag in einer gewaltigen Blutlache. Viel zu viel Blut. Verdammte Scheiße, das mussten wenigstens zwei Liter sein.
„Hörst du mich?“ Sie umfasste sein Gesicht. Er blickte sie an, doch seine Augen schienen sie kaum
Weitere Kostenlose Bücher