Wenn nur noch Asche bleibt
hämorrhagischen Schock. Genaugenommen …“ Der Arzt blickte auf und sah Elena direkt in die Augen. Er räusperte sich zweimal, dann fuhr er fort: „Genaugenommen dürfte er gar nicht mehr leben. Er müsste tot sein. Die Verletzung, die er erlitten hat, war tödlich. Wer sie ihm zugefügt hat, wusste genau, wohin er stechen musste.“
„Und trotzdem lebt er?“
„Ja. Noch jedenfalls.“
„Kann ich zu ihm?“
Der Arzt schien nicht erfreut, nickte ungeachtet dessen und ging voraus. Sie durchquerten mehrere Flure, wandten sich einmal nach links und zweimal nach rechts, bis sie vor einer Tür mit der Nummer 501 stehen blieben.
„Gehen Sie davon aus, dass er die Nacht nicht überlebt.“ Der Mann öffnete und ließ sie eintreten. „Wir haben alles in unserer Macht stehende getan, aber die Verletzungen waren zu schwerwiegend.“
Elena würgte an dem Kloß in ihrem Hals. Sie starrte auf die blasse, reglose Gestalt, die auf dem Bett lag. Es war nicht Daniel. Es war nur eine Hülle, die nichts mehr gemein hatte mit dem Mann, der Tag und Nacht ihre Gedanken beherrschte.
„Sie sind nicht auf Notfälle spezialisiert“, presste Elena hervor. „Habe ich das richtig verstanden?“
„Das stimmt. Aber eine Verlegung würde er in keinem Fall überleben. Egal, was wir tun, er wird sterben. Dass er überhaupt noch atmet, grenzt an ein Wunder.“
Der Arzt senkte den Blick, als trüge er allein die Schuld an allem, was geschehen war. Leise zog er sich zurück, schloss die Tür und ließ Elena allein. Zögernd ging sie zum Bett hinüber. Eine Infusion tropfte gemächlich vor sich hin, rechts von ihm stand eine Maschine, die monoton tickend Puls und Herzschlag anzeigte. Man hatte ihn tatsächlich aufgegeben. Vermutlich verabreichte man ihm nur noch ein Schmerzmittel, das die letzten Momente in dieser Wirklichkeit erleichtern sollte.
„Akzeptier es“, murmelte Elena und sank auf die Bettkante. „Du hast schon alles Mögliche hingenommen. Das hier ist nur ein weiterer Strich auf der Liste.“
Verdammt …
Sie streichelte seinen Arm, der nicht so kalt war wie erwartet. Elena wünschte, es wäre so gewesen. Eine Lebendigkeit zu spüren, die unwiderruflich verloren war, quälte sie auf unerträgliche Weise. Tränen rannen über ihre Wangen. Sie zog ihre Hand zurück, rannte in den Flur hinaus und kehrte mit einer Tageszeitung zurück.
Obwohl sie keine Ahnung hatte, was für ein Sinn oder Zweck in dieser Tätigkeit lag, begann sie, Daniel vorzulesen. Die erste Seite handelte ausschließlich vom alltäglichen Geschehen auf diesem Planeten. Morde, Vergewaltigungen, Naturkatastrophen, die Nord- und Südkoreakrise, das mysteriöse Massensterben zahlloser Vögel und Fische sowie die am Boden liegende Wirtschaft. War all das vom Diebstahl der Kristalle ausgelöst worden? War dies der Endspurt zu einem apokalyptischen Inferno? Elena wurde übel. Wenn die Menschheit zum dauerhaften Überleben drei mächtige Relikte benötigte, die ihre Destruktivität im Zaum hielten, konnte man ihre Rasse nur als fehlgeschlagen bezeichnen. Genau genommen wäre es für diesen Planeten besser, wenn der Homo sapiens verschwand. Wohin man auch blickte, überall hinterließen die Menschen in ihrem Kielwasser Zerstörung und Leid. Warum musste das so sein? Warum konnte keine Harmonie herrschen? Sie blätterte zur Klatschseite und verbrachte die nächste Stunde damit, Daniel über die Beziehungs- und Modedramen der High Society aufzuklären. Sie las monoton und leise, fügte Schluchzer, hilflose Pausen und wütendes Schnaufen ein, bis das Handy in ihrer Hosentasche zu klingeln begann.
Smith. Wie erwartet. Der Lieutenant wähnte sie in Sicherheit, glaubte, sie verbrächten geruhsame Stunden in Daniels Haus am Meer. Trotzdem rief er um kurz nach sechs Uhr morgens an?
Elena drückte den Anruf weg und widmete sich wieder der Zeitung. Wenn sie Smith erklären musste, was geschehen war, würde sich der letzte Rest ihrer Selbstkontrolle in Luft auflösen. Mochte er denken, sie lägen im Bett und kuschelten sich aneinander. Was auch immer, sie konnte nicht mit ihm reden. Mit niemandem, außer mit Daniel.
Elena beobachtete eine Weile das EKG. Täuschte sie sich, oder waren Puls und Herzschlag kräftiger geworden? Es gab eine Menge Dinge, in denen ihr kaum jemand das Wasser reichen konnte, aber Medizin gehörte definitiv nicht dazu.
„Komm schon“, murmelte sie. „Was ist mit deinen magischen Fähigkeiten? Das wäre der ideale Moment, sie einzusetzen.
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