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Wenn nur noch Asche bleibt

Wenn nur noch Asche bleibt

Titel: Wenn nur noch Asche bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauss
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Erschöpfung nachzugeben, war unwiderstehlich. Seit sechs Tagen hatte er kaum mehr Nahrung zu sich genommen. Nur Regenwasser aus Bächen geschöpft oder mit dem Mund aufgefangen, wenn es von den Felsen tropfte. Hier und da eine Handvoll Beeren, die er mit fatalistischer Todesverachtung verspeist hatte oder einen kleinen Fisch mit der Hand gefangen und roh gegessen.
    Nach drei Tagen waren der bohrende Hunger und die Übelkeit verschwunden. Am vierten Tag hatte er sich gefühlt, als wäre seine Körperlichkeit von allem Ballast befreit. Wie ein Geist war er durch Wälder und Täler gewandert, hatte Dörfer durchquert und Reisfelder passiert, gedankenlos, gefühllos. Weit davon entfernt, lebendig zu sein.
    Jetzt, am sechsten Tag, übermannte ihn eine bleierne Müdigkeit. Seine Erschöpfung gaukelte ihm vor, er müsse dem Ziel nahe sein, doch wenn er sah, wie sich die Berge immer höher in den Himmel schwangen, wie sich Wälder und Felsen nach jeder Wegbiegung bis zum Horizont erstreckten, hoheitsvoll schlafend unter weltvergessener Dämmerung, schlich sich der Gedanke ein, er würde es niemals schaffen.
    Geh weiter, raunte ihm eine innere Stimme zu. Geh weiter. Du wirst es schaffen.
    Manche hätten gesagt, es sei ein Instinkt, der ihm diesen Befehl zuflüsterte. Eine Ahnung oder das berühmte Bauchgefühl. Doch Daniel wusste, dass es mehr war. Manchmal hörte er diese Stimme so deutlich, als spräche jemand direkt in sein Ohr. Manchmal glaubte er, eine Berührung zu spüren. Eine Hand, die tröstend auf der seinen lag, wenn er aus einem Albtraum erwachte. Ein Ruck, der ihn hochzog, wenn er sich entschloss, nie wieder aufzustehen.
    Vielleicht war es nur Einbildung. Aber falls das den Tatsachen entsprach, war er bereits als Kind nicht richtig im Kopf gewesen. Viele Menschen erschufen sich in ihren ersten Jahren körperlose Freunde. Fantasiegestalten, die trösteten und bei der Flucht in ferne Welten halfen. Doch sein körperloser Freund war geblieben. Still und leise wie ein Schatten, der verschwindet, sobald man sich nach ihm umschaut.
    „Du verfolgst ein Märchen“, waren die letzten menschlichen Worte gewesen, die er gehört hatte. „Das südliche Kloster existiert nicht mehr seit dem achtzehnten Jahrhundert. Kaiser Kangxi ließ es zerstören. Du wirst keinen Stein mehr finden, der auf dem anderen liegt. Du wirst überhaupt nichts finden.“
    Er gab nichts auf dieses Geschwätz. Fehlender Glaube war es nicht, der ihn zweifeln ließ. Derselbe Mann hatte ihm im nächsten Atemzug versichert, Tiger seien in dieser Gegend längst ausgerottet, doch gestern war eine solche Katze um sein Feuer geschlichen. Mit glimmenden Augen und flammendem Fell, das sich über Muskeln spannte wie kostbarer Samt, durchbrochen von Streifen aus Dunkelheit, die die Konturen des Tieres verschwimmen ließen. Der Tiger war verschwunden, ohne sich ihm genähert zu haben und im Nachhinein war Daniel der Gedanke gekommen, die Wildnis selbst hätte ihn durch die Augen des Tieres geprüft.
    Er justierte das Gewicht seines Rucksacks und lief weiter, getrieben von einer Stärke, die nicht allein aus ihm zu kommen schien. Ob ein Pfad noch existierte, war kaum mehr auszumachen. Vielleicht war er einst von Menschen getreten worden, vielleicht von Tieren. Oder der Eindruck eines Weges war nur Illusion. Längst waren seine braune Cordhose und sein schwarzes, kurzärmeliges Hemd zerrissen und durchtränkt von Schweiß, doch aufgrund der schwülen Hitze besaß er ohnehin kein Kleidungsstück mehr, das trocken war. Sich umzuziehen war bedeutungslos. Vieles war bedeutungslos geworden. Zum Beispiel alles, was hinter ihm lag, ausgenommen seine Frau, die hier am Ende der Welt lebendiger war als in ihrer gemeinsamen Heimat. Sie hatte Abenteuer immer geliebt. Auf gewisse Weise reisten sie zusammen und erfüllten sich einen lang gehegten Traum. Vielleicht würden sie sich am Ende dieser Reise endlich wiedersehen.
    Ja, vielleicht.
    Der Tod war nichts mehr, das er fürchtete. Er erschien ihm wie ein Freund. Wie ein Vertrauter, dem er bereits mehrmals begegnet war.
    Als bleigrau der Abend dämmerte, sank Daniel an einem Bach zusammen und betrachtete sein Spiegelbild im Wasser. Für einen Augenblick schien ihm ein Fremder entgegenzublicken. Ein wunderschöner Mann mit stolzem Adlergesicht, langem schwarzem Haar und Augen aus Obsidian.
    Gib nicht auf, flüsterte der Fremde. Geh weiter.
    Daniel schlug nach dem Wasser. Als es sich wieder beruhigte, blickte ihm sein

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