Wenn nur noch Asche bleibt
durchgebissen. Vielleicht der Tiger, der um sein Feuer geschlichen war.
„Du wirst es nicht schaffen“, hörte er den Mönch sagen. „Willst du für eine Illusion sterben?“
„Warum nicht? Wenn ich sterbe, dann ist es mein Schicksal.“
Er lief weiter. Einen Hang hinauf, ein Tal hinab. Wie viele Hänge und Täler hatte er bereits durchschritten? Hunderte? Tausende? Tropfen fielen von silberblauen Nadeln und durchdrangen die Stille der heranbrechenden Nacht mit ihrem einschläfernden Lied. Noch ein Schritt, bleischwer und mühevoll. Zwei weitere Schritte. Er hatte das Gefühl, als wollte ihn die Erde zu Boden ziehen. Seine letzten Kräfte schwanden, selbst der sonst unerschütterliche Funke in seinem Inneren verglomm. Die Stämme der Zedern lösten sich im Nebel auf, verschlangen sich ineinander und zerflossen zäh wie Sirup.
Dann ein dumpfer Aufschlag. Plötzlich lag er da und blickte in den Himmel … eine graue, wabernde Suppe, die bis auf die Wipfel der Bäume herabgesunken war.
Er würde also sterben. Auch nicht schlecht.
Verfallene Pagoden ragten wie Mahnmale der Vergänglichkeit aus dem Nebel auf. Es hatte geregnet. Kaskaden glitzernder Tropfen fielen von Gesimsen, Vorsprüngen und Schnitzereien. Die nach typisch asiatischem Stil geschwungenen Dächer waren von Moos und Flechten erobert worden. Das Holz, aus dem die Türme bestanden, fiel der Fäulnis zum Opfer. Manche der Pagoden waren nicht mehr als zusammengefallene Haufen modernder Überreste, andere erweckten den Anschein, als könnte ein Windhauch sie zerstören. War dies das südliche Kloster? Die Überreste jenes legendären Tempels, in dem die chinesische Kampfkunst ihren Ursprung gefunden hatte?
Vermutlich träumte er. Oder er war tot.
Daniel stemmte sich auf die Füße, balancierte sein Gleichgewicht mit ausgestreckten Armen aus und sah, dass er einen Anzug trug. Einen schneeweißen, der jedoch dank Matsch und Regen einen Großteil seiner Makellosigkeit verloren hatte. Die weite Hose und das Hemd schienen perfekt auf seinen Körper zugeschnitten und bestanden aus weicher Baumwolle. Er grinste. Irgendein Scherzkeks hatte ihn in einen klassischen Shaolin-Kampfanzug gesteckt. Falls das hier das Jenseits war, war es ziemlich skurril. Er befühlte die ovalen, weißen Holzknöpfe, strich über seine Brust und ertastete den typischen Stehkragen. Seine Füße waren nackt. Offenbar bestand der Wächter des Elysiums darauf, dass man die Schuhe draußen ließ.
Daniel versuchte, die Situation zu realisieren. Ihm wurde kalt, seine Muskeln schmerzten. Haare und Anzug waren völlig durchnässt. Das Gefühl, sich im Jenseits zu befinden, wich äußerst weltlichem Unbehagen. Vor ihm am Ende des Pagodenwaldes ragte eine gewaltige Zeder in den Himmel. Ihr zerfurchter Stamm hätte von zehn Männern nicht umfasst werden können. Ein unglaublicher Baum, der Daniels Aufmerksamkeit augenblicklich fesselte. Umwabert von Nebel, umgab sich die Zeder mit der Aura eines göttlichen Wesens.
Seine Füße verursachten keinen Laut, als er über die aufgeweichte Erde schritt. Träumerisch berührte er das faulende Holz einer Pagode und fragte sich, ob das Bauwerk nach alter Tradition Knochen beherbergte. Uralte Überreste von Mönchen des südlichen Klosters. Die Glocken an den Ecken des Daches läuteten längst nicht mehr im Wind, die Buddhastatuen in den Nischen zerfielen. Auf den Vorsprüngen nisteten Vögel und bedeckten die Schnitzereien mit ihrem Kot. Menschliche Heiligtümer, aufgezehrt von der Natur.
„Du hast gefunden, was du gesucht hast.“
Daniel fuhr herum. Ein draller alter Mann stand am Fuße eines Gingkobaumes. Es war der Mönch. Er trug denselben Anzug wie Daniel, allerdings war seiner schwarz. Vermutlich wollte er damit irgendein Ying-Yang-Gleichgewicht demonstrieren oder einen tieferen Sinn symbolisieren. Das Gesicht des Alten strahlte vor innerer Zufriedenheit, was Daniels merkwürdige Stimmung noch vertiefte. Wo war er? Was war er? War er überhaupt noch?
„Das südliche Kloster?“ Gut, sprechen konnte er also noch. Seine Stimme klang sogar vertrauter als in den Wochen zuvor. Sie klang beinahe wie früher. Tief und fest. „Ist das hier das südliche Kloster?“
Der Mönch schüttelte den Kopf. „Nein, das Kloster stand etwas abseits. Dort oben auf dem Berg. Du wirst keine Überreste mehr finden, weil die Geschichten wahr sind. Es wurde vor langer Zeit zerstört. Die Pagoden, zwischen denen wir stehen, sind alles, was übrig geblieben
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