Wenn nur noch Asche bleibt
Spiegelbild entgegen. Alles war so, wie es sein sollte. Doch nein, etwas stimmte nicht. Waren seine Haare nicht dunkler geworden? Ebenso wie seine Augen und seine Haut? Glichen sich seine Gesichtszüge nicht langsam denen des Fremden an, oder saß er nur einem Trugbild auf?
Er fletschte die Zähne gegen sein Spiegelbild. Was würde Rebecca sagen, wenn sie ihn so sehen könnte? Er musste lachen. Inzwischen trug er die Haarlänge, die sie ihm empfohlen hatte. Vermutlich würde keiner seiner Freunde und Kollegen ihn erkennen. Sein Gesicht war schmaler geworden, seine Haut starrte vor Schmutz. Vielleicht beruhten all die Veränderungen nur auf den Entbehrungen, die er sich aufgebürdet hatte. Verfilzte, bis auf die Schultern hängendes Haar verlieh ihm das Aussehen eines Waldschrats. Eigentlich hätte ihm der Bart inzwischen bis zu den Kniekehlen hängen müssen, doch weder am Kinn noch auf den Wangen regte sich auch nur der geringste Haarwuchs.
Seine Verzweiflung brannte nicht mehr, sie glomm still vor sich hin wie Glut unter der Asche. Als er sich zurücksinken ließ und in die silberblauen Wipfel der Zedern blickte, schien jede Last von ihm abzufallen. Irgendwo schrie ein aufgescheuchter Fasan. Wenn er jetzt einschlief, würde er nicht wieder aufwachen. Niemand konnte etwas dagegen tun, nicht einmal der Geist, der sich in seinem Kopf eingenistet hatte. Und was dann? Seine Wut hielt ihn am Leben. Seine Wut dem Leben und dem Schicksal gegenüber, die ihn zähneknirschend vorantrieb, ohne ihm den Sinn hinter diesen Anstrengungen zu verraten. Er wusste nur, dass er weitergehen musste. Einfach immer weiter und weiter.
Kraftlos schob er sein linkes Hosenbein hoch und betrachtete die Wunde, die ihm vor zwei Tagen ein Dorfhund zugefügt hatte. Sie sah nicht gut aus. Obwohl sein Blick vor Erschöpfung verschwommen war, erkannte er, dass das Fleisch gerötet und geschwollen war. Eine Entzündung. In seiner Heimat wäre er spätestens jetzt in ein Krankenhaus gegangen und hätte sich mit den Errungenschaften der modernen Medizin abfüllen lassen, aber hier draußen? Irgendwo im Nirgendwo?
Todmüde sank er wieder zurück. Eine Entspannung durchströmte seinen Körper, die etwas Endgültiges besaß. Wenn er hier starb, war es eben Schicksal. Alles war Schicksal. Sein Leben war ein Baum mit vielen Ästen, und er kletterte drauflos. Fand Halt oder rutschte ab. Es gab keine falschen Entscheidungen. Nur Bestimmung. Und am Ende wartete seine Frau, um ihn in ihre Arme zu nehmen. Egal, welchen Ast er erklomm.
„Was suchst du, mein Sohn?“
Die Stimme weckte ihn, gerade als er in oberflächlichen Schlaf gefallen war. Daniel blinzelte. Ein Mann stand vor ihm, winzig und drall, in die orangefarbene Kutte eines Mönchs gekleidet. Die Tasche, die er bei sich trug, war klein. Nicht gemacht für weite Wege. Er musste ganz in der Nähe leben.
„Das südliche Kloster.“ Daniel erschrak vor seiner Stimme. Sie klang, als gehörte sie nicht zu ihm. Matt, kraftlos, fremd. Es war die Stimme eines Menschen, den er nicht kannte.
„Das südliche Kloster?“, echote der Mann und lächelte. Hatte er jemals ein so freundliches Gesicht gesehen? Es sah aus wie eines dieser Gesichter, die man in Kinderbüchern dem Mond verpasst. „Dann suchst du etwas, das nicht existiert.“
Daniel rollte mit den Augen. Er hatte diese Worte oft genug gehört. Hoffnung, in seinem Herzen wurzelnd wie ein zerbrechliches Pflänzchen, verdorrte binnen eines Atemzugs.
„Du sprichst unsere Sprache gut.“ Der Mönch ließ sich auf einem umgestürzten Baum nieder. Offenbar war er in Plauderlaune. „Ich treffe nicht oft auf Fremde, die ich so gut verstehe.“
„Mein Vater bestand darauf“, murmelte er schläfrig. Die Bisswunde pochte und sandte schmerzhafte Impulse durch seine Nervenbahnen.
„Wer war dein Vater?“, verlangte der Alte zu wissen.
„Hatte nur Geschäfte im Kopf.“ Er winkte ab. „Ich muss jetzt weiter. Es ist nicht mehr weit.“
„Du jagst einer Vision hinterher.“
Der Mönch sah zu, wie er versuchte, aufzustehen. Es wäre besser gewesen, einfach der Müdigkeit nachzugeben, doch die Stimme in seinem Inneren wurde drängender. Sie zwang ihn, seine Tasche aufzunehmen und einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ihm wurde heiß. Noch heißer als zuvor. Warum tat er das? Worauf hoffte er noch? Schweißtropfen rannen seinen Nacken hinab. Wieder schrie der Fasan. Der Schrei ging in ein Röcheln über, als hätte etwas dem Vogel die Kehle
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