Wenn nur noch Asche bleibt
Garten öffnete. Im Schatten mehrerer Gingkobäume, Korkenzieherweiden und Goldlärchen wanden sich künstlich angelegte Bachläufe, schimmerten Teiche und erhoben sich Hügel aus schwarzer, fruchtbarer Erde, auf denen Bonsais wuchsen. Daniel sah einen lebensgroßen, schlafenden Buddha, dessen Gesicht die vollkommenste Stufe innerer Ruhe ausstrahlte. Flankiert von zwei goldenen Kranichen, dämmerte er der Ewigkeit entgegen.
„Was gefällt dir an diesem Garten nicht?“, fragte der Mönch.
Daniel ließ den Blick schweifen. Alles wirkte vollkommen. Auf den ersten Blick. „Ich brauche eine Schere.“
Großmeister Zongyou nickte, ohne dass sein Gesicht eine Emotion verriet. Er ging zu einer Holzkiste und öffnete sie. Daniel ergriff die Schere, trat vor einen Bonsai und begann mit verbissener Entschlossenheit, die Drähte zu zerschneiden, die die Pflanze gefangen hielten. Als der Baum von seinen Fesseln befreit war, ging er zum nächsten Bonsai hinüber. Sechsmal ließ ihn der Mönch gewähren, erst dann schritt er ein.
„Jetzt weiß ich, was dir wichtig ist. Komm mit.“
Nun betraten sie den Tempel, dessen dämmrige Tiefe von sich kräuselnden Räucherstäbchen-Schwaden erfüllt war. Es gab Miniaturpagoden, aus der Asche der abgebrannten Stäbchen errichtet, kostbare Statuen und Schnitzereien, Malereien an den Wänden, Teppiche und gerahmte Kalligrafien. Doch all das schwebte ätherisch an ihm vorbei wie die Erinnerung an einen schönen, fernen Traum.
Großmeister Zongyou schob eine Holztür auf und führte ihn in einen leeren Raum. Bodentiefe Fenster gaben majestätische Ausblicke auf die Berge frei.
„Setz dich.“
Daniel gehorchte. Als das Messer zu schneiden begann, fühlte er nichts. Nur ein wohltuendes, erlösendes Vakuum, das ihn ganz und gar ausfüllte. Er widmete den fallenden Haaren keinen Blick. Seltsame Düfte stiegen ihm in die Nase, als sein Kopf mit etwas eingerieben wurde, dann spürte er erneut das Messer. Hart schabte es über seinen Schädel, entfernte jedes noch so kleine Haar und hinterließ makellos glatte Haut.
„Es soll ein Neuanfang sein“, sagte der Mönch mit sonorer Stimme. „Als vor sieben Tagen ein Ibis aufgescheucht wurde, wusste ich, dass ich jemanden finden würde. Es gibt keine Zufälle. Nur Schicksalsfügungen. Wegen des Vogels ging ich auf die Suche. Du bist bereit, alles aufzugeben. Du hast festgehalten an einer Idee, die jeder andere für einen Traum hält und du warst bereit, für diese Idee zu sterben.“
„Keine Idee“, erwiderte Daniel. „Nur mein Schicksal.“
„Was hat dir das gesagt?“
„Ein Gefühl, als ich die Geschichten über das südliche Kloster hörte.“
„Das ist noch nicht alles.“ Großmeister Zongyou zog die Klinge ein weiteres Mal über seinen Kopf. Sie ritzte die Haut, doch er gab keinen Ton von sich.
„Nein“, murmelte Daniel wie im Halbschlaf. „Ein Jugendfreund von mir lebte fünf Jahre im Kloster am Fuße der Songshan Berge. Er erzählte nie viel darüber, aber wenn er es tat, wurde er anders. Lebendiger.“
„Was wurde aus deinem Freund?“
„Ein Manager. Irgendwann hat ihn seine frühere Leidenschaft nicht mehr interessiert. Wahrscheinlich bin ich wegen ihm hier.“
„Nein. Nicht wegen ihm. In dir spüre ich etwas Uraltes. Etwas Gewaltiges, das dich führt und antreibt.“
Unwillkürlich dachte Daniel an seinen unsichtbaren Gefährten. Ja, ein Gefährte war es wohl am ehesten. Sein Begleiter seit früher Kindheit, der ihm näher war als jeder Mensch, obwohl er nicht einmal wusste, ob es ihn wirklich gab.
„Woran denkst du gerade?“, wollte der Alte wissen.
„An etwas, das ich mir vermutlich nur einbilde.“
„Was ist es?“
„Seit meiner Kindheit fühle ich immer wieder eine Präsenz. Damals bezeichnete ich sie als meinen Schutzengel. Es ist wie …“ Er seufzte über sein Unvermögen, die richtigen Worte zu finden. „Es fühlt sich an wie eine unsichtbare Person, die ich nicht sehen, aber spüren kann. Wenn es mir schlecht ging oder wenn ich kurz davor war, die falsche Entscheidung zu treffen, griff sie mir metaphorisch unter die Arme.“
Großmeister Zongyou wischte Daniels inzwischen kahlen Kopf mit einem Tuch ab, nahm seine Hände und zog ihn hoch. „Hast du ihn jemals gesehen? Hat er zu dir gesprochen?“
„Ich höre seine Stimme oft. Und manchmal, wenn ich in den Spiegel blicke, sehe ich für Sekunden ein anderes Gesicht.“ Er wand sich unangenehm berührt, doch der Mönch zeigte keine Anzeichen
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