Wenn nur noch Asche bleibt
gewesen: „Dein Schicksal liegt nicht hier, sondern in deiner alten Heimat. Geh! Du musst gehen! Sonst war alles umsonst.“
Daniel starrte ins Leere, bis ein helles Schimmern seine Aufmerksamkeit fesselte. Zunächst widerstand er dem Drang, dem Ursprung dieses Effekts nachzugehen, und redete sich ein, es wäre nichts weiter als eine ausgeblichene Muschel oder ein Stück silbernes Kaugummipapier, wie es Wanderer in Massen hinterließen. Das Bild der Frau von heute Morgen schoss ihm wieder durch den Kopf. Er sah ihre wütend funkelnden Augen und das hauchfeine Lächeln auf ihren Lippen, das von ihr selbst nicht wahrgenommen worden war.
Daniel schnaufte. In ihm fochten zwei Gegensätze einen immerwährenden Kampf, der mehr als ermüdend war. Einerseits war er Egoist und Misanthrop, andererseits ein Mensch, der nach Harmonie strebt. Irgendwer musste sich bei seiner Schöpfung einen Scherz erlaubt haben. Wie passten diese beiden Charaktere zusammen? Er hasste die Menschen und wollte sie retten. Er wollte alles hinter sich lassen und zugleich sein Schicksal erfüllen. Der Weg der goldenen Mitte … es klang einfach, entpuppte sich jedoch als schwerste aller Aufgaben. Was wollte er wirklich? Worin lag seine Bestimmung? Und die wichtigste Frage: Tat er wirklich das Richtige?
Sie war stur und aufbrausend. Das gefiel ihm. Sie war widerspenstig, im Innersten zerrissen und wie ein kleiner Vogel im Sturm. Zäh, aber immer Gefahr laufend, im Mahlstrom unterzugehen. Irgendetwas hatte sie vor langer Zeit gebrochen. In ihr strahlte diese gewisse Form von Stärke vielfach geschmolzenen und gehärteten Stahls, die man nur erlangte, wenn man die Abgründe des Daseins ausgelotet und bezwungen hatte.
Daniel stutzte. Wurde er etwa neugierig auf diese hübsche, kleine Nervensäge mit der perfekten Hochsteckfrisur, den manikürten Nägeln und den gewienerten Pumps? Er stieß ein protestierendes Schnaufen aus. Unsinn. Sein Herz war ausgefüllt, bis zur letzten Faser und für den Rest seines Daseins.
Erneut fiel ihm das silberne Schimmern auf. Es versprach Ablenkung, also ließ er sich fallen, ging zu dem ominösen Glitzern hinüber und wischte ein paar Kiefernnadeln beiseite. Es war ein Fotoapparat. Etwas plump, für heutige Verhältnisse ziemlich groß. Er kam ihm vertraut vor, doch erst nach einigen Momenten des Musterns kam ihm die Erkenntnis, warum das so war.
Heißkalte Schockwellen durchliefen ihn. Das konnte nicht sein. Unmöglich. Er drehte den Apparat um und verspürte eine Welle des Schwindels. Sein Gleichgewichtssinn kränkelte. Höhnisch prangte ihm der Schriftzug in der Ecke rechts unten entgegen. Smith & Welson. Der Laden, in dem seine Frau ein- und ausgegangen war.
Es war ihr Fotoapparat.
Sein Finger ruhte zitternd über dem Anschalt-Knopf. Würde er Bilder von ihr sehen? Selbstporträts seiner großen Liebe, entstanden kurz vor dem Unglück? Am Morgen, bevor er damals nach Portland aufgebrochen war, hatte seine Frau Fotos eines verendeten Fisches geschossen. Plötzlich waren die Erinnerungen wieder da. So kristallklar, als wären sie niemals vom Laufe der Jahre ausgeblichen worden. Blau war das Tier gewesen. Türkisblau mit grünen Streifen und gepunkteten Flossen. Am Abend zuvor hatten sie sich gemeinsam Filme angesehen.
Haunted Hill
,
Der Nebel
und
Plan 9 from outer Space
. Sie hatten eingelegte Pfirsiche in Massen verspeist, und seiner Frau waren beim letzten Film vor Lachen die Tränen gekommen.
Daniel lächelte, obwohl sich alles in ihm verkrampfte vor Elend. Es sah ihr so ähnlich, dass sie den Apparat verloren hatte. Ständig waren ihr Dinge abhandengekommen. Ihr Handy, ihre Schlüssel, ihre Lieblingsstifte.
Er hielt den Atem an, biss sich auf die Unterlippe und drückte den Knopf. Nichts geschah. Fühlte er Erleichterung oder Enttäuschung?
Wenn er eines in den vergangenen Jahren gelernt hatte, dann die Tatsache, dass es keine Zufälle gab. Es gab Schicksalsfügungen und Zeichen, die als Leuchtturm in der häufig heraufziehenden Dunkelheit des Lebens fungierten. Und wer sie nicht befolgte, lief Gefahr, an den Klippen zu zerschellen.
Daniel rannte zurück zum Haus, so schnell ihn seine Beine trugen. Er musste noch einmal ins Department. Irgendjemand würde dort sein, der ihm helfen konnte, die letzten Fotos seiner Frau anzusehen. Er musste sehen, was sie gesehen hatte. Vor ihrem Tod.
„Willst du sie dir wirklich ansehen?“ Rebecca warf ihm einen zweifelnden Blick zu. „Bist du dir ganz
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