Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wenn nur noch Asche bleibt

Wenn nur noch Asche bleibt

Titel: Wenn nur noch Asche bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauss
Vom Netzwerk:
Messingschale auf vergoldeten Tigerpranken. Daniel verzichtete darauf, das Feuer darin zu entfachen, zündete lediglich einige Räucherstäbchen an, die in einer von der Decke baumelnden Messingampel steckten, und setzte sich im Lotossitz auf den Boden. Eingehüllt von Stille und Erinnerungen beobachtete er den Nebel, der über das Meer kroch.
    Instinktiv fand sein Atem jenen Rhythmus, der Körper und Geist in Gleichklang versetzt. Der Fluss des Qi durchströmte seine Zellen. Warm, kraftvoll und stark. Die Uressenz allen Lebens. Als seine Entspannung vollkommen war und jegliche Erinnerungen in Vergessenheit gerieten, begann er mit den Übungen. Er stemmte sich mit den Händen hoch, entfaltete seine Beine und streckte sie nach hinten aus, ohne dass Füße oder Knie den Boden berührten. So hielt er seinen Körper mehrere Minuten in der Waagerechten, spürte die Spannung in seinen Muskeln und Sehnen, lauschte seinem Atem und lenkte den Schmerz, der irgendwann kam, als Energie in sein Inneres. Schließlich wechselte er fließend in den Handstand über, verlagerte sein Gewicht von zwei Händen auf eine Hand und fuhr seine Atemfrequenz noch weiter hinunter. Körperlichkeit wurde zu schwereloser Energie, bereit, jede Grenze zu überwinden. Kurz öffnete Daniel die Augen. Der Nebel hatte den Strand und die Felsen verhüllt. Möwen schrien in der Ferne.
    Langsam drückte er sich mit der Hand hoch, bis sein Gewicht auf vier Fingern, dann auf dreien und schließlich nur noch auf Zeige- und Mittelfinger ruhte. Bewegungslos verharrte er in dieser Position. Sein Körper wurde zu einem schwerelosen Geistzustand. Er war leicht wie ein Vogel im Wind. Leicht wie ein Gedanke. Langsam ließ er sich in den Lotossitz zurückgleiten, faltete die Hände im Schoß, schloss die Augen und ließ den allumfassenden Frieden durch sich hindurchströmen. Eines Tages, wenn er die letzte Grenze überschritt, würde nicht einmal mehr dieser winzige Kontakt zur Erde nötig sein. Eines Tages würde er sich vollkommen von ihr lösen und frei sein, gemeinsam mit der einzigen Frau, die er je geliebt hatte. Seine fleischliche Hülle blieb in dieser Welt, ein überflüssig gewordener Kokon. Welkende Materie. Unwichtig und vergessen.
    Daniel spürte, wie nahe er diesem Zustand war. Fast glaubte er, den Geist hier und jetzt aus dem Körper lösen zu können. Er spürte den Atem der Unendlichkeit und die Nähe zur wunderbaren Selbstaufgabe, doch etwas zog ihn zurück. Es war wie ein sanfter, mentaler Griff, der sich seiner Seele bemächtigte und sie in dieser Welt hielt.
    Es ist noch nicht so weit. Deine Aufgabe ist noch nicht erfüllt
.
    Nur widerwillig kehrte er zurück in die Wirklichkeit. Zu langsam verschloss er seinen durch die Trance weit geöffneten Geist, und so strömte, ehe er sich verschließen konnte, für den Bruchteil einer Sekunde eine wahre Flut an Gefühlen auf ihn ein. Angst, Hass und Gier. Verzweiflung, Trauer und Schmerz. Seine Seele, in diesem Zustand wie ein Resonanzkörper, der von fremden Emotionen in Schwingung versetzt wurde, schien zu zerbersten. Für einen winzigen Moment spürte er alles Leid der Welt. Es war unbeschreiblich. Es war wie ein betäubender Schlag in die Magengrube, wie ein Wirbelsturm, der ihn zu Boden schmetterte. Oder ein Blizzard, der in seinem Kopf und seinem Herzen tobte und alles vereiste. Die negative Energie wurde mit jedem Tag stärker, das Gleichgewicht der Dinge zerbrach. Irgendwann würde die Angst der Menschen sogewaltig sein, dass sie alles in den Abgrund zog.
    Und er würde es nicht verhindern können.
    Daniel sprang auf und entlud seine Frustration in einem Kampf gegen imaginäre Feinde. Weich und flexibel bewegten sich seine Gliedmaßen im Stil der Schlange, als stünde ein Gegner vor ihm, dessen Konzentration geschwächt werden musste. Abrupt ließ Daniel diese Langsamkeit in den Stil des Kranichs überwechseln und vollführte einen blitzschnellen Angriff. Dem Kranich folgte der Leopard – kraftvolle, geschmeidige Tritte und Schläge, die die Gelenkigkeit des Körpers bis auf das Äußerste forderten. Wieder verlor er jeden Bezugspunkt zur Realität, doch dieser Trip war anders. Brutal und sengend, von tief gehender Verzweiflung und Wut. Es war ein Tanz auf erstarrender Lava. Sein Körper füllte sich mit Schmerz, besiegte ihn und funktionierte wie eine gefühllose Maschine. Blitzschnell und mechanisch. Seine Bewegungen wurden schneller, immer schneller, bis er sie selbst kaum mehr verfolgen

Weitere Kostenlose Bücher