Wenn süss das Mondlicht auf den Hügeln schläft
hinaus. Henry blieb an ihrem Pult stehen.
Gaylord war auf einmal hellwach. Henry Bartlett war sein Freund. Gaylord konnte sich nicht vorstellen, was sich in Henrys sonst so ereignislosem Leben abgespielt und eine derartig dramatische Reaktion ausgelöst haben könnte. Sofort richtete er seine nicht unbeträchtliche Phantasie auf diese Frage und kam zu dem einzig möglichen Schluß: Henry war einer Hexe in die Hände gefallen, die ihn um Mitternacht in eine Kröte verwandeln würde, was wohl für jeden Menschen eine ziemlich scheußliche Situation war. Aber was, so fragte sich Gaylord respektlos, was will die Quasselplatte schon dagegen machen?
Das Problem, dem Miss Plattner sich gegenübergestellt sah, war jedoch gänzlich anderer Natur.
Zunächst einmal war sie nicht sonderlich beglückt, als Miss Marston erschien. Für Rektorinnen hat das Ende des Schuljahrs eine fatale Ähnlichkeit mit dem Tag des Jüngsten Gerichts. Ihre Arbeit steht unter dem drohenden Schatten einer schrecklichen, unausweichlichen letzten Stunde, die immer viel zu früh kommt. Daher schaute sie Miss Marston ungeduldig an. «Hat das nicht Zeit bis zum Beginn des nächsten Schuljahrs?»
«Nein», sagte Miss Marston, «es ist wirklich ziemlich ernst.»
Die Rektorin seufzte, schraubte ihren Füllfederhalter zu, nahm die Brille ab, lehnte sich zurück und starrte Miss Marston direkt in die Seele. «Schießen Sie los», sagte sie.
Miss Marston sagte: «Es geht um Henry Bartlett. Er behauptet, jemand hätte ihn auf dem Feldweg überfallen.»
Die Augen der Rektorin bohrten sich weiter in Miss Marstons Seele. Sie ließen sich nicht beirren. «Wann?»
«Letzte Woche, an einem Abend. Er kam von seiner Großmutter zurück, und...»
«Letzte Woche, an einem Abend», sagte die Rektorin und starrte Miss Marston weiter an. «Letzte Woche! Und da wartet er bis eine Stunde vor Schulschluß, um damit herauszurücken. Ist die Polizei benachrichtigt? Hat seine Mutter sich bei Ihnen gemeldet? Oder ist das ganze ein Lügengespinst?»
«Ich glaube kaum, daß es ein Lügengespinst ist», sagte Miss Marston fest.
«Oder eine Übung in freier Phantasie?»
Miss Marston schüttelte den Kopf. «Er war sehr erregt, ich habe ihn nicht viel gefragt. Ich dachte, Sie würden mit ihm sprechen wollen.»
Miss Plattner setzte die Brille auf, um ihrer Untergebenen noch besser in die Seele schauen zu können. «Wollen, Miss Marston? Das ist wohl nicht der korrekte Ausdruck! Ich will nicht! Ich habe nicht das geringste Verlangen, fünf Minuten vor zwölf etwas ins Rollen zu bringen, dessen Ausgang nicht abzusehen ist.» Sie stand auf. «Ich will keinesfalls. Aber selbstverständlich werde ich.»
Sie gingen gemeinsam ins Klassenzimmer zurück. Die Rektorin machte die Tür auf und blieb in erschreckender Majestät dort stehen. Der Lärm erstarb, als ob sie an einem Schalter gedreht hätte. Sie fixierte die Kinder mit einem Hühnerblick. «Wenn sich noch einer von euch muckst», sagte sie zuckersüß, «werde ich für euch alle die ganzen Sommerferien streichen.»
Gaylord sah hoffnungsfroh zu ihr auf, aber nur kurz, denn er hatte
zu Erwachsenen kein rechtes Vertrauen. Miss Marston sagte sanft: «Henry, mein Junge, Miss Plattner will ein paar Worte mit dir sprechen.»
Henry wankte wie magnetisiert zur Tür. Miss Marston legte ihm begütigend die Hand auf die Schulter und führte ihn in das Zimmer der Rektorin.
Miss Plattner setzte sich. Diesmal starrte sie in Henrys Seele. «Nun, Henry», begann sie ruhig. «Wer hat dich überfallen?»
«Das weiß ich nicht, Miss. Er kam aus der Hecke gesprungen und hat mir die Hände um den Hals gelegt und zugedrückt - hier! » Er wies auf seinen Adamsapfel. «Ich habe fast keine Luft mehr gekriegt.»
«So. Hm. Und was dann?»
«Dann kam ein Auto um die Ecke, und da hat er losgelassen und ist wieder in die Büsche gerannt.»
«Hat das Auto angehalten? »
«Nein, Miss.»
«Und was hast du dann gemacht?»
«Ich bin nach Hause gerannt.»
«Hast du es deiner Mutter erzählt?»
«Ja, Miss.»
«Wann?»
«Heute morgen, Miss. Sie hat gesagt, ich müßte es meiner Lehrerin melden.»
«Warum hast du es denn nicht früher erzählt?»
«Ich...»Er ließ den Kopf hängen. «Ich weiß nicht, Miss.»
Miss Plattner klopfte mit ihrem Bleistift gegen einen ihrer knochigen Krallenfinger. «Würdest du ihn wiedererkennen, Henry?»
«Nein, Miss.»
«Warum nicht? War es denn dunkel?»
«Der Mond schien, Miss. Aber... es war so plötzlich
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