Wenn Tote schwarze Füße tragen
noch ein paar Worte, dann
lege ich auf und geselle mich wieder zu meinem Onkel und meiner Tante.
Mein Onkel ist Hobbymaler und — zu
Recht — stolz auf seine Aquarelle. Natürlich widersteht er nicht der
Versuchung, mir die Kunstwerke zu zeigen. Zwischen zwei Landschaftsbildern,
sozusagen als überleitender Text, schwelgen er und meine Tante in Erinnerungen,
die weitere Erinnerungen heraufbeschwören. Meine Tante ist das lebende
Lokalblatt. Sie weiß über alles Bescheid: Taufen, Beerdigungen, Hochzeiten und
Scheidungen mit den entsprechenden Festessen.
„Sieh dir dieses Bild an“, sagt mein
Onkel. „Weißt du, was das ist? Dein Geburtshaus in Celleneuve, in der Rue du
Bassin. Bei Gelegenheit muß ich mich mal aufrappeln und mich nach Brianne
begeben, ans andere Ende von Celleneuve. Ich möchte nämlich Castellets
Bauernhof malen, den dein armer Paps bis zuletzt bewirtschaftet hat und auf dem
du den größten Teil deiner Kindheit verbracht hast.“
„Dann mußt du dich aber beeilen“,
wirft meine Tante ein. „Der ist bald nur noch ‘ne Ruine.“
„Ja, der Hof ist seit Jahren
verlassen. Erinnerst du dich an Madame Casteilet, die schöne Mireille? Alle
nannten sie Madame Castellet, und ich nenne sie heute noch so, obwohl sie gar
nicht so heißt. Castellet und sie waren nicht verheiratet. Ihr Mädchenname war
Ducros. Erinnerst du dich nicht?“
Aber ja, ich erinnere mich noch genau
an Madame Castellet, die Provinzkurtisane. Castellet, der Sohn eines
Weinbauern, hatte sich wegen ihr ruiniert und war schließlich verschwunden.
Fremdenlegion oder so was Ähnliches, in bester Melodrama-Tradition... Madame
Castellet! Auch ich wäre wohl mit ihr ins Bett gegangen, später, sobald ich
erwachsen geworden wäre und ganz bestimmte Voraussetzungen erfüllt hätte.
„Als wir noch in der Stadt wohnten“,
fährt mein Onkel fort, „haben wir sie häufiger getroffen, und dann hat sie sich
immer nach dir erkundigt... Sie hat jetzt einen Laden für Damenunterwäsche in
der Rue Daranaud. Ah, sie hat sich nicht verändert! Ich meine: immer noch in
Samt und Seide! Und noch eins weißt du nicht: Castellet ist zurückgekommen!“
„Ja, er war in der Fremdenlegion“,
schaltet sich meine Tante ein. „Dann hat er in Algerien neu angefangen, ich
weiß nicht, womit
Diese Informationslücke ärgert sie
sichtlich.
„Und dann, zack!, im Sturm der
Ereignisse, hat er’s gemacht wie soviele andere: ab nach Frankreich! Er ist
hier gelandet, arm wie ‘ne Kirchenmaus.“
„Ja, er ist zurückgekommen“, echot
mein Onkel. „Und weißt du, was das Beste ist? Sie leben wieder zusammen,
Mireille und er. Was für ein Paar! Egal, Castellet ist nicht nachtragend. Oder
er läßt sich aushalten, als Wiedergutmachung, sozusagen, für das viele Geld,
das er wegen ihr durchgebracht hat. Weil... na ja... Sein Transportunternehmen
wirft wohl nicht grade ein Vermögen ab...“
„Ist ja nur ein Lieferwagen“,
präzisiert meine Tante und verzieht geringschätzig das Gesicht. „Ein kleiner
Lieferwagen und ein einziger Fahrer-Lieferant-Lagerist. Wenn Mireille den Start
finanziert hat, dann mußte sie nicht viel ausgeben.“
„Na ja, das ist ihre Sache“,
beschließt mein Onkel und fügt, zu mir gewandt, hinzu: „Du solltest sie
besuchen gehen. Die zwei sind Originale, aber keine schlechten Menschen. Und
sie mögen dich sehr. Erinnerst du dich an Karneval? Sie haben dich in ihrem
blumengeschmückten Wagen mitfahren lassen, als Pierrots verkleidet, sie und du.
Du solltest sie besuchen.“
„Ich werd’s ganz bestimmt tun“,
versichere ich.
Um so lieber, da die schöne Mireille
ein Geschäft für Damenwäsche in der Rue Daranaud hat! Genau aus diesem Geschäft
stammen nämlich die Seidenstrümpfe, die ich in Agnès’ Zimmer gefunden habe. Die
Stadt mag größer geworden sein, die Welt jedoch ist klein geblieben.
Unterdessen springt mein Onkel von
einem Thema zum nächsten und gräbt unterwegs zwei oder drei Leichen seines
persönlichen Friedhofs aus. Die Unterhaltung steigt auf ein Golgotha der
Erinnerungen, fällt mehrmals hin und erhebt sich schließlich nicht mehr. Ich
nutze die Gelegenheit, um mich zu verabschieden.
* * *
Zurück in der Stadt und durch meinen
Aufenthalt auf dem Lande vollkommen wiederhergestellt, sage ich mir, daß ich
mich in die Rue Bras-de-Fer begeben könnte, dorthin, wo Christine Crouzait
wohnt, die Friseuse. Von allen Personen, die ich befragen muß, erhoffe ich mir
von ihr am meisten. Wenn jemand
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