Wenn Tote schwarze Füße tragen
Mademoiselle Crouzait
eine hübsche, üppige Brünette. Das sehe ich auf den ersten Blick, denn außer
ihren Strümpfen hat sie nur einen fast durchsichtigen Unterrock an. Ich bin
kein Arzt, aber ich glaube, daß sie schon seit mehreren Tagen tot ist.
Während ich mir noch mit meinem
Taschentuch den Schweiß abwische, gehe ich zum offenen Fenster und schließe es
leise. Allerdings droht von dieser Seite keine Gefahr. Das Fenster geht auf
einen Lichtschacht hinaus, und gegenüber befindet sich eine Brandmauer. Als
nächstes widme ich mich der Wohnungstür. Sie war abgeschlossen, aber der
Schlüssel steckt nicht innen im Schloß. Er hängt an einem Nagel am Türpfosten.
Ich stoße die angeschlagene Tür zu, so gut es geht, und blockiere sie mit einem
Hocker. Dann überwinde ich meinen Ekel und gehe durchs ehemalige Eß- und
jetzige Totenzimmer in den angrenzenden Raum. Parfümduft hängt in der Luft. Das
Zimmer ist hübsch eingerichtet und aufgeräumt, abgesehen davon, daß ein Kleid
auf dem Boden liegt und das Bett zerwühlt ist. Die Möbel im Eßzimmer sind
altmodisch. Hier jedoch ist alles aufs modernste eingerichtet. Na ja, Sie
wissen schon... Ich öffne einen Spiegelschrank. Er enthält eine Kollektion von
Frauenkleidern, einige davon hochelegant. Vor allem ein Kostüm mit gelben und
blauen geometrischen Figuren — „Op-art“ nennt man das wohl — , das zu eng
geschnitten ist, um der üppigen Juno, die Christine einmal war, zu passen. Das
schweißgetränkte Taschentuch in der Hand, ziehe ich die Schubladen eines
Schreibtischs auf. Sie sind leer. Vielleicht sind sie’s immer gewesen,
vielleicht aber auch nicht. Vollkommen leere Schreibtischschubladen, so was ist
selten. Man hat immer irgendwelchen Krimskrams aufzubewahren.
Mein Rundgang führt mich in die Küche,
in der ein riesiger Kohleherd thront. Aufgepaßt, Sherlock Holmes! Ist der
Inhalt der Schubladen möglicherweise eingeäschert worden? Ich bewaffne mich mit
einem Schürhaken und stochere in dem Haufen kalter Asche herum. Ein Stoffetzen
ist der Verbrennung entgangen. Er ist nur halb so groß wie meine Hand, nicht
größer. Ich befreie ihn von der Asche und halte etwas Graues mit feinen blauen
Streifen in der Hand. Kein Zweifel, es ist ein Stück Stoff von Agnès Dacostas
Kostüm!
Ich stecke den Fetzen ein, verwische
die Spuren meiner Hausdurchsuchung und verschwinde. Die Wohnungstür lasse ich
angelehnt, die Strangulierte an ihrem klimpernden Galgen, und die Fliegen lasse
ich ihren makabren Totentanz weitertanzen.
Im Treppenhaus treffe ich keine
Menschenseele. Zu hören ist nur das Geräusch des Mistrals. Ich bin alleine mit
dem Gestank der Etagenklos.
Unten im Treppenflur begehe ich noch
eine weitere Straftat: Ich breche den Briefkasten der toten Friseuse auf.
Vielleicht hat sie ja in letzter Zeit interessante Post erhalten, die sie nicht
mehr lesen konnte. Meine Ausbeute besteht aus einem einzigen Brief. Ich stecke
ihn ein und mache mich unbemerkt aus dem Staub.
Später, in meinem Wagen, ziehe ich aus
dem Umschlag, der in Lourdes abgestempelt wurde und wahrscheinlich heute
angekommen ist, eine altmodische Ansichtskarte heraus. Auf ihr ist die Fassade
des Erziehungsheimes von Aniane im Departement Hérault abgebildet. Auf der
Rückseite lese ich:
Liebe Cousine,
ich hoffe, Du läßt mich in diesem
Monat mit dem Geld nicht hängen. Ich muß was zu beißen haben. Wenn ich Hunger
habe, mache ich nämlich den Mund auf. Und das könnte peinlich werden. Wie
findest Du die, Ansicht’? Hab die Karte beim Aufräumen auf dem Dachboden
gefunden. Hübsch, nicht wahr ?
Gruß und Kuß
Maud
Die erste Schlußfolgerung, die sich
mir nach der Lektüre aufdrängt, ist die, daß die tote Adressatin eine komische
Cousine hatte. Diese Maud muß wohl in einem ähnlichen Haus wohnen wie dem, das
auf der Karte zu sehen ist. Und sie droht damit, den Mund aufzumachen, falls
man ihr kein Geld schickt. Offenbar handelt es sich um monatliche Zahlungen.
Ich muß herausfinden, ob das etwas mit dem Verschwinden von Agnès Dacosta und
mit anderen merkwürdigen Ereignissen zu tun hat.
Ich stecke Karte samt Umschlag in die
Tasche, steige aus und gehe in ein nahegelegenes Bistro, um Dorville anzurufen.
Vorher trinke ich einen Martini, um meiner Erregung Herr zu werden. Dorville
meldet sich nicht. Ich geb’s auf. Soll ich die Flics von dem Fund informieren,
der sie in der Rue Bras-de-Fer erwartet? Ich tu’s nicht. Erst einmal brauche
ich Zeit, um mir alles durch den
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