Wenn Zaertlichkeit dein Herz beruehrt
herausgefunden hatte - sie nicht erkannt hatte. Jetzt nicht und auch nicht vor zwei Tagen, als sie auf der Straße an ihm vorbeigegangen war. Es war verrückt, aber der Stachel seiner abfälligen Worte saß immer noch so tief, das sie sich jetzt erst recht einen Spaß daraus machte, ihn an der Nase herumzuführen. Sie hatte diesen Job angenommen, weil sie am Ende eines jeden Tages bezahlt wurde, denn sie brauchte Kleider und Informationen. Doch viel erfuhr sie hier nicht, nur ein bisschen Klatsch. Also hatte sie an diesem Morgen ihr Aussehen erneut geändert und zusätzlich eine Stelle als Zimmermädchen angenommen. Sie wusste nicht, welche Arbeit härter war: Heu zu wenden oder schmutzige Bettwäsche zu wechseln, aber im Hotel erfuhr sie einfach mehr. Sie hatte einiges aufgeschnappt, was ihr vielleicht weiterhelfen konnte. Und heute Abend würde sie zum ersten Mal einen waschechten Saloon aus dem 19. Jahrhundert betreten!
Sie überprüfte schnell ihre Barschaft und betrachtete dann die Silbermünze, die der Schmied ihr gegeben hatte. Himmel, in meiner Zeit wäre diese Münze ganz schön wertvoll, dachte sie. Sie konnte es sich nicht leisten, Geld zu verschwenden, nachdem sie sich mit Frauenkleidung und einem gebrauchten Leder-Reisesack eingedeckt hatte, in dem sie ihren Rucksack verbergen konnte. Denn es war ganz schön viel, was die Frauen dieser Zeit unter einem Rock und einer einfachen Bluse trugen. Sie hatte den Laden als Jake betreten und behauptet, sie wolle die Kleidung als Geschenk für ihre Schwester kaufen, und sie sogar einpacken lassen, damit sie keinen Verdacht erregte. Die altjüngferliche Clara - das Dienstmädchen - und Jake waren B eid es unscheinbare Typen, fielen nicht auf. Niemand durfte auch nur ahnen, dass sie, Victoria, dahinter steckte. Ihr wirkliches Ich pflegte sie erst zu zeigen, wenn die Handschellen zugeschnappt waren und ihr Opfer hinter Schloss und Riegel saß.
So, gleich hast du deinen großen Auftritt, dachte sie, steckte sich das Hemd in die Hose und zog die Schultern ein, bevor sie die Straße überquerte und bei jedem Schritt Staub aufwirbelte. Sie war nervös. Sie war zwar oft genug in Bars gewesen, aber sie befürchtete, dass sie auffallen könnte, einfach weil sie die Sitten dieser Zeit nicht kannte.
Sie stieß die Schwingtür auf und ging in ihrer besten Cowboy-Imitation an die Bar, stellte einen Fuß auf die Stange und bemühte sich, nicht zu starren.
Es war unglaublich.
Der Lärm war ohrenbetäubend, Lachen und Gesprächsfetzen drangen von allen Seiten auf sie ein. Im ganzen Raum standen runde Holztische, auf Hochglanz poliert und mit grün gepolsterten Stühlen. Die meisten waren mit Spielern, Cowboys und schmutzigen Schürfern besetzt, die kleine Säckchen mit feinem Silberstaub vor sich stehen hatten. Rauchschwaden hingen in der Luft, dämpften das ohnehin schon schwache Licht der Leuchter und die Farben der vielen Gemälde an den Wänden. Ein Mann mit einem Bowler und Armschonern über den weißen Hemdsärmeln spielte mit großem Enthusiasmus Klavier. Im Hintergrund hielten sich einige extravagant gekleidete Frauen auf, eine von ihnen strich mit der Hand über die Schulter eines Spielers. Als er sie einfach beiseite schob, suchte sie sich indigniert das nächste Opfer. Offensichtlich gehört ein Bordell dazu, dachte Victoria, dann glitt ihr Blick zu einer Tür mit der Aufschrift »Privat« und weiter die Treppe hinauf. Von dem langen Flur gingen etliche Zimmer ab. Eine zierliche, zerbrechlich wirkende Blondine lehnte sich über das obere Geländer, wobei ihr fast die Brüste aus dem tiefen Ausschnitt fielen.
Victoria schaute sich weiter unauffällig um. Ihr Magen knurrte, aber sie war nicht hungrig genug, um sich etwas zu essen zu bestellen, obwohl es hier anscheinend auch gutes Essen gab. Sie wollte nicht mehr Zeit als nötig in der Öffentlichkeit verbringen. Sie senkte den Kopf ein wenig. Der große Spiegel über der Bar bot ihr eine gute Übersicht.
Der Barkeeper beendete endlich sein Gespräch mit einer üppigen Rothaarigen und kam zu Victoria hinüber, wischte dabei mit seinem Tuch über die Theke.
»Ein Bier«, murmelte Victoria und knallte die Münze auf die Theke.
»Wie alt bist du?«
»Alt genug.« Der Barkeeper lachte, dann langte er unter die Bar und schob Victoria eine beschlagene Flasche über die Theke zu. Sie fing sie auf und hob den Kopf weit genug, um den Blick des Mannes zu erwidern. Sie wartete auf ihr Wechselgeld, starrte ihn auffordernd
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