Wer anders liebt (German Edition)
nickten.
Der Mann führte sie in die Diele und stieg dann eine Treppenstufe hoch, um seine Frau, Gudrun, zu rufen. Sie erschien oben auf der Treppe.
»Ich habe angerufen«, sagte sie als Erstes.
Dann kam sie herunter.
»Denn ich habe ihn kommen sehen. Er ging an unserem Haus vorbei, ich habe ihn oft gesehen.«
»Und wie war er angezogen?«
»Wie es in der Zeitung stand. Rote Hose und T-Shirt.«
»Waren Sie auf dem Hofplatz«, fragte Skarre, »oder haben Sie ihn vom Fenster aus gesehen?«
»Ich stand im ersten Stock auf dem Balkon und habe Flickenteppiche ausgeschüttelt. Er hatte einen Stock in der Hand. Oder vielleicht auch einen langen Zweig.«
»Hat er sie gesehen?«, fragte Skarre.
»Er hat das Klatschen der Teppiche gehört und hochgeschaut.«
»Wie lange waren Sie auf dem Balkon?«
»Nur ein paar Minuten.«
»Was war mit dem Verkehr?«, fragte Sejer. »Haben Sie Autos gesehen, als Jonas vorbeigegangen war?«
»Ich kenne mich nicht aus mit Autos«, sagte sie hilflos. »Ein Auto ist eben ein Auto, und hier draußen in Huseby gibt’s nicht viele. Ich habe versucht, mich an etwas zu erinnern, aber ich kann Ihnen nicht mehr sagen.«
»Wissen Sie, um wie viel Uhr der Junge vorbeigekommen ist?«, fragte Sejer.
»Das kann ich nicht sagen. Wissen Sie, ich habe keine Uhr.«
Sie bedankten sich und gingen weiter. Kurz darauf waren sie von Wald umgeben und sie sahen kein Haus mehr, nur dichte schwarze Tannen. Nach fünfzehn Minuten tauchte auf der linken Seite ein schöner Hof auf, weiter oben lag rechts ein kleines rotes Haus.
»Du nimmst den Hof«, sagte Sejer, »und ich das Haus.«
Skarre überquerte den Hofplatz, während Sejer zum Haus weiterging. Es war ein Stück von der Straße entfernt, und er bezweifelte, dass die Bewohner Jonas August hatten sehen können, wenn er auf seinem Weg nach Hause überhaupt so weit gekommen war. Auf dem Hofplatz stand ein mit verwelkten Blumen gefüllter alter Karren. Sejer drückte auf die Klingel und ein Mädchen schaute ihn durch einen schmalen Spalt schüchtern an.
»Polizei«, sagte er und machte eine Verbeugung. »Sind irgendwelche Erwachsenen zu Hause?«
Sie mochte zwölf Jahre alt sein und trug eine Brille mit Stahlfassung, die Gläser funkelten in der Sonne.
»Nein«, sagte sie und lehnte sich an den Türrahmen, »die sind bei der Arbeit.«
Sejer nickte zur Straße hinüber.
»Es geht um Jonas August«, sagte er. »Der ist am Sonntag, dem 4. September, diese Straße entlang gegangen. Deshalb frage ich. Ob jemand in diesem Haus ihn vielleicht gesehen hat. Du weiß ja sicher schon, was geschehen ist.«
»Wir waren um diese Zeit nicht zu Hause«, sagte sie.
»Hast du ihn gekannt?«
»Nein«, sagte sie. »Gekannt nicht, aber ich weiß, wer er war.«
»Du gehst auf die Solberg-Schule?«
»Ja. In die 6. Klasse.«
»Dann lass mich eine andere Frage stellen«, sagte Sejer. »Die Kinder hier draußen reden über einen Mann, der ab und zu vor der Schule wartet. Er fährt ein weißes Auto. Hast du den schon mal gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Aber die anderen reden über ihn. Dass er langsam hin und her fährt.«
Sejer musterte sie forschend.
»Warum habt ihr den Erwachsenen nichts gesagt?«
Sie zuckte mit den schmalen Schultern.
»Da gibt es doch nicht viel zu sagen«, sagte sie. »Er tut doch nichts, er fährt nur.«
»Geh ihm aus dem Weg«, sagte Sejer.
Sie nickte.
»Entschuldige die Störung«, sagte er dann. »Du machst vielleicht gerade Hausaufgaben?«
»Ich muss über Beethoven schreiben«, antwortete sie. »Jahresarbeit.«
»Er hat sein Gehör verloren«, sagte Sejer. »Aber das weißt du sicher schon.«
»Ja.«
»Ich habe gehört, dass er total unmöglich war«, sagte Sejer jetzt, »ein alter verbitterter Mann ohne Gehör.«
Die Kleine taute langsam auf, in ihrem Gesicht war ein Lächeln zu sehen.
»Aber taub oder nicht«, sagte Sejer, »sein Kopf war voller Musik. Es gibt ja etwas, das inneres Ohr genannt wird. Deshalb konnte er Sonaten schreiben, obwohl er nichts hörte. Ziemlich gut, was?«
Sie nickte. Sejer ging wieder auf die Straße hinaus, Skarre kam vom Hofplatz her, er schüttelte den Kopf.
»Nichts.«
Sie standen oben an einem breiten Hang, der abfallend in einer Kurve verschwand, der Wald ragte zu beiden Seiten auf wie eine Wand. Ganz unten hörten sie fließendes Wasser, und es wurde dunkler. Der Weg war ziemlich schmal, sie hatten das Gefühl, in einer Kluft zu verschwinden, zuletzt machte der Weg einen
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