Wer anders liebt (German Edition)
Lauf, und dabei hatte er sich seit vielen Stunden nicht mehr bewegt. Als er endlich in einen unruhigen Dämmerschlaf glitt, jagten die Erinnerungen vorbei und zeigten ihm alles deutlich auf. Sehnsucht und Einsamkeit, mit denen er ein ganzes Leben lang gelebt hatte. Bis jetzt hatte er sich besonnen, er hatte sich von allen Versuchungen abgewandt. Er war stark und anständig gewesen. Aber jetzt hatte das Schicksal ihn über die Kante geschoben. Er schloss die Augen und stieß ein trockenes Schluchzen aus, aber das brachte ihm keine Linderung.
13
Hauptkommissar Sejer war korrekt, reserviert und höflich, und seine gemessene Art konnte man vielleicht mit Arroganz verwechseln. Wenn man ihn nicht gut kannte. Es gab fast niemanden, der das von sich sagen konnte. Er war eifrig im Dienst, ehrgeizig, aber kein Streber, er war geduldig, aufmerksam und entscheidungsfreudig, und er lachte nur sehr selten. Er besaß eine tiefernste Einstellung dem Leben und seinem Beruf gegenüber, aber manchmal war doch sein tiefes Lachen zu hören. Er war zurückhaltend, stark und bestimmt, immer tadellos angezogen, mit blankgeputzten Schuhen und sauberen, frisch gebügelten Hemden. Niemand hatte ihn je die Kunst gelehrt, zu flirten, zu verführen oder zu manipulieren, außer wenn er es mit einem Mörder zu tun hatte, der jegliche Schuld leugnete. Dann wurde Sejer zu einem Mann, der aus einem Stein Wasser herauspressen konnte.
»Kannst du dich an Jørgen Pihl erinnern?«, fragte Skarre. »Das war ein ziemlich großer Fall. Er war Kinderarzt in Ullevål, er hatte den ganzen Tag kleine Kinder bei sich und konnte sie berühren, so viel er wollte. Am Ende ging er zu weit, die Kinder fingen an zu reden. Er verlor natürlich seine Zulassung und danach nahm er ein ziemlich trauriges Ende, er trank sich um den Verstand und verlor Haus und Familie.«
»Ja«, sagte Sejer. »An den kann ich mich erinnern. Und auch an Kristian Kruse, der hat Kurse für die Jugendweihe geleitet. Und ich erinnere mich auch an Philip Åkeson.«
»Philip Åkeson kann man nicht vergessen«, sagte Skarre. »Der Mann aus dem Linde-Wald hat sich nicht gemeldet«, fügte er hinzu. »Wann sollten wir misstrauisch werden?«
»Das bin ich schon«, sagte Sejer. »Aber wir müssen ihm Zeit lassen. Es gibt Leute, die sich keine Nachrichten ansehen.«
»Das gibt’s nicht«, sagte Skarre. »Dieser Fall hat jetzt schon mehrere Millionen Menschen erreicht, er ist außerhalb der Landesgrenzen bekannt, alle wissen, dass dieser Mann sich melden soll. Ich gebe ihm noch diesen einen Tag, dann denke ich mir meinen Teil. Können wir uns an jemanden mit einem besonderen Gang erinnern?«
Sejer überlegte. »Nein, nicht spontan. Aber es kann eine Verletzung sein, die er sich später zugezogen hat.«
Er ging zum Fenster und schaute hinaus.
»Egal, wer er ist«, sagte er dann, »ob er auf unserer Liste steht oder nicht, er ist in Deckung gegangen. Er wagt nicht, ans Telefon zu gehen. Er zieht sich vielleicht anders an als sonst, und vielleicht geht er in anderen Geschäften einkaufen. Was er an Kräften hat, nutzt er, um eine Verteidigung für sich aufzubauen. Er hat das Gefühl, dass alle Welt gegen ihn ist, und vermutlich ist er verbittert.«
Er sah Jakob Skarre an. »Kriminelle haben eine ganz besondere Einstellung«, sagte er. »Sie betrachten sich als etwas Einzigartiges. Sie halten sich für cleverer als die meisten anderen. Sie glauben, sie können sich in der Schlange vordrängen und einfach zugreifen, weil die üblichen Regeln für sie nicht gelten. Wenn sie dabei anderen auf die Zehen treten, sind diese anderen selber schuld. Wenn man einen Kriminellen rehabilitieren will, muss man mit anderen Worten seine gesamte Denkweise ändern, und das ist nicht leicht. Was unseren Mann angeht, so kann der durchaus vorbestraft sein, und wenn er das ist, ist er bereits ausgestoßen. Wenn er jetzt eine Schwelle überschritten hat, kann er wirklich gefährlich werden, jetzt hat er nichts mehr zu verlieren. Und wenn er seine pädophile Veranlagung so lange unterdrücken konnte, kann es von nun an für ihn härter werden.«
»Wie entwickelt man eine solche Veranlagung?«, fragte Skarre. »Ich begreife das nicht, das ist doch unnatürlich. Kinder senden keine solchen Signale aus.«
»Das werden wir herausfinden«, sagte Sejer. »Und vielleicht müssen wir uns von allerlei Vorurteilen befreien.«
»Das wird nicht leicht«, sagte Skarre. »Ich habe so viele.«
Er trat an die Wand.
»Der
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