Wer bin ich ohne dich
familiären Ablauf nicht stören. Sie gehen morgens ganz früh joggen, damit sie nach ihrer Rückkehr mit der Familie frühstücken können, lassen ihre Yogastunde ausfallen, wenn jemand aus der Familie etwas von ihnen will, oder telefonieren mit ihren Freundinnen, weil ein Treffen zu viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Bevor sie etwas für sich tun, achten Frauen darauf, dass erst alle anderen versorgt sind.
Wie Christine aus dem Beispiel oben fällt es den meisten Frauen grundsätzlich sehr schwer, etwas für sich zu tun. Wenn | 198 | ihr Lebensschiff in unruhige Gewässer gerät, zeigen sie in der Regel wenig Selbstmitgefühl, sondern wollen möglichst schnell das Ruder herumreißen, um wieder ruhigere Fahrt aufnehmen zu können. In der Regel versuchen sie das, indem sie sich für ihre Unaufmerksamkeit, ihre Ungeschicklichkeit, ihre Fehlerhaftigkeit kritisieren und sich antreiben. Kommt die Selbstfürsorge dauerhaft zu kurz, dann kann das auch zu einem Stressfaktor werden, der in die Depression führen kann.
Wie die amerikanische Psychotherapeutin Kristin Neff, deren Forschungsschwerpunkt das Selbstmitgefühl (»selfcompassion«) ist, festgestellt hat, antworten die meisten Frauen auf folgende Aussagen meist zustimmend – und zeigen damit, dass es ihnen an Selbstmitgefühl mangelt:
»Wenn es um meine eigenen Fehler und Unzulänglichkeiten geht, bin ich missbilligend und beurteilend.«
»Wenn ich mich schlecht fühle, tendiere ich dazu, nur die negativen Dinge zu sehen.«
»Wenn die Dinge schlecht für mich laufen, betrachte ich das als Teil meines Lebens und denke, dass nur ich diese Probleme habe.«
»Wenn ich an meine Unzulänglichkeiten denke, fühle ich mich allein und vom Rest der Welt abgeschnitten.«
»Wenn das, was mir wichtig ist, nicht gelingt, werde ich von Gefühlen der Unzulänglichkeit überwältigt.«
»Wenn ich niedergeschlagen bin, sehe ich nicht, dass es vielen Menschen auf der Welt genauso geht wie mir.«
»Wenn die Zeiten wirklich schwierig sind, neige ich dazu, hart mit mir zu sein.« | 199 |
»Wenn ich mich niedergeschlagen fühle, stelle ich mir vor, dass andere Menschen wahrscheinlich glücklicher sind als ich.«
»Wenn ich am Strampeln bin, kommt es mir vor als ob andere es leichter haben als ich.«
»Wenn ich leide, kann ich ziemlich kaltherzig mir gegenüber sein.«
Frauen, die wenig Verständnis für sich selbst aufbringen können, haben meist einen starken inneren Kritiker, der ihr Denken und Handeln beeinflusst. Ein solcher innerer Kritiker hält das Selbstwertgefühl niedrig, indem er der Frau immer die Schuld gibt, gleichgültig, was schief läuft, indem er sie mit anderen vergleicht, die alles viel besser können, ihr hohe, nicht erreichbare Maßstäbe setzt, ihr einflüstert, dass sie perfekt sein muss, sich alles merkt, was falsch läuft, aber ihre Erfolge und Leistungen ignoriert. Vor allem Frauen, die depressiv oder depressionsgefährdet sind, lassen sich von diesem inneren Kritiker extrem beeinflussen.
Selbstmitgefühl statt Aufopferung
Was aber bedeutet es konkret, mit sich selbst Mitgefühl zu haben? Kristin Neff nennt drei Merkmale der »Selfcompassion«.
Selbstfreundlichkeit: Frauen mit einer großen Fähigkeit zu Selbstmitgefühl haben Verständnis für sich, wenn es mal in ihrem Leben nicht so rund läuft. Sie erwarten kein Allzeithoch, und sie wertschätzen sich auch dann, wenn sie gerade mal nicht so glänzend dastehen oder mit dem Schicksal hadern. Schon die antiken Philosophen sprachen von der »Selbstfreundschaft« als Element der Lebenskunst. Beispielsweise beschrieb Seneca die wichtige Fähigkeit, »Freund zu sein für mich selbst« (»amicus esse mihi«). | 200 | Er meinte damit, so erklärt der Philosoph Wilhelm Schmid, »nicht gleichgültig gegen sich zu sein, sondern sich um sich zu kümmern, für sich da zu sein, sich der Sorge für sich zu befleißigen und auf diese Weise nie allein zu sein, da das Selbst mit sich zusammenleben kann.«
Verbundenheitsgefühl mit anderen: Auch in schwierigen Zeiten denken selbstfreundliche Frauen nicht, dass nur sie zu den Pechvögeln gehören und alle anderen das Glück gepachtet haben. Sie wissen, dass Scheitern und Niederlagen zum Leben gehören und irgendwann jeden Menschen treffen. Sie stellen ihre eigene momentane Situation in einen größeren Zusammenhang, indem sie akzeptieren, dass Belastungen und Leid zu jedem Leben dazugehören.
Achtsamkeit: Gelingt es einer
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