Wer bin ich ohne dich
ganzen Körper, als wäre ich schuld an dem Missgeschick … Und ich wusste nicht, was ich tun sollte, wie ich seinen Zorn besänftigen konnte. Ich versuchte, ruhig zu sein, mich nicht aufzuregen, aber in meinen Ohren hörte ich das Pfeifen der Angst, wie das Pfeifen einer Lokomotive, die immer näher kommt, während man weiß, dass die Schranke nicht funktioniert und ein Unfall nicht mehr zu vermeiden ist und nur noch die Frage bleibt, wie groß die Katastrophe sein wird.«
Weil sie die Katastrophe fürchten, verhalten sich depressive Frauen in ihren Beziehungen anspruchslos. Sie dulden. Sie schweigen. Sie wiegeln ab. Sie zeigen Verständnis. Sie nehmen hin, was scheinbar nicht zu ändern ist. Damit bringen sie sich um die Chance zu erleben, was passieren würde, wenn sie sich zur Wehr setzen, wenn sie den Ton lauter drehen und sich Gehör verschaffen würden. Dann würden sie nämlich feststellen: Es passiert … nichts! Jedenfalls nichts Schlimmes. »Die reife Form der Aggressionsverarbeitung kann man nur dadurch erwerben, dass man Erfahrungen mit seiner Aggression macht«, sagt Fritz Riemann. Amerikanische Psychologen konnten belegen: Beziehungen sind nur dann gleichwertig, wenn verletzendes, demütigendes, ignorierendes Verhalten nicht geduldet wird. Werden Gereiztheiten, Schimpfworte, Desinteresse, Ausbeutung oder gar Gewalt sofort und eindeutig abgewehrt, dann ist die Chance groß, dass dieses unangemessene Verhalten nicht wieder auftritt.
Vorbildcharakter hat in diesem Zusammenhang eine Szene aus dem Film Pretty Woman . Er handelt von dem Callgirl Vivian | 206 | Ward (verkörpert von Julia Roberts), das sich in den reichen, gut aussehenden Freier Edward Lewis (Richard Gere) verliebt. Nachdem er sie mit einem angemessenen Outfit ausstaffiert hat, darf sie ihn eine Woche durch sein Leben begleiten. Edward verrät bei einem Treffen seinem Freund und Anwalt den wahren Beruf von Vivian, woraufhin dieser nichts Besseres zu tun hat, als sich der jungen Frau anzüglich zu nähern. Obwohl sie das Leben an Edwards Seite genießt, und obwohl sie sich längst in ihn verliebt hat, setzt sie sich zur Wehr und nimmt in Kauf, dass ihr Märchen sofort endet. Tatsächlich kommt es zu einem heftigen Streit, in dessen Verlauf Vivian ihre Sachen packt und Edward verlassen will. Als dieser merkt, dass es ihr wirklich ernst ist, entschuldigt er sich und bittet sie, zu bleiben. Daraufhin spricht sie zwei Sätze, die sich jede Frau, der Unrecht getan wird, merken sollte: »Du hast mich verletzt! Tu das nie wieder!«
»Wut ist ein Gefühl. Sie hat immer Gründe und verdient immer unsere Aufmerksamkeit«, schreibt die Psychologin Harriet Lerner. Und fügt hinzu: »Wir alle haben das Recht auf alles, was wir fühlen – und dabei ist unsere Wut mit Sicherheit keine Ausnahme. Doch depressive Frauen sprechen sich selbst dieses Recht ab. Sie fürchten einen Beziehungsabbruch, wenn sie es wagen, negative Gefühle zu zeigen. Sie halten deshalb oftmals über lange Zeit hinweg ihre Ärgergefühle, ihre Aggressionen, ihre Wut zurück. Doch Ärger ist weder ein positives noch ein negatives Gefühl – er ist ein angemessenes Gefühl, das eine Frau auf negative Entwicklungen aufmerksam machen will.
Ärger hat wichtige Funktionen: Er signalisiert einer Frau, dass wichtige Bedürfnisse und Wünsche zu kurz kommen. Er macht darauf aufmerksam, dass es einen Konflikt gibt, der gelöst werden muss. Er ermutigt sie, sich zu verteidigen, eine Grenze zu ziehen, Nein zu sagen. Er motiviert sie zu Veränderungen.
Um ihrem Ärger Ausdruck verleihen zu können, müssen de | 207 | pressive Frauen lernen, den Ton lauter zu stellen. Dazu müssen sie sich vor allem ihren Ängsten stellen, die mit ihren Ärgergefühlen verbunden sind, und sich fragen, wie angemessen diese Ängste sind: die Angst vor Strafe und Vergeltung, die Angst vor Zurückweisung und Liebesentzug, die Angst, anderen weh zu tun. Wenn eine Frau diese Ängste gegenüber ihrem Partner oder anderen wichtigen Menschen in ihrem Leben hat, dann agiert und empfindet sie so, wie sie sich vielleicht früher als Kind den Eltern gegenüber gefühlt hat. Damals war sie in der Tat hilflos und konnte nicht riskieren, den Ärger der Erwachsenen auf sich zu ziehen. Wenn sie heute als erwachsene Frau aus einem Kind-Zustand mit anderen kommuniziert, wird sie kaum als gleichwertige Partnerin wahrgenommen. Das ergibt eine schiefe Kommunikationsebene.
Im Leben depressiver Frauen gibt es häufig solche
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