Wer bin ich ohne dich
Frau, in Krisenzeiten möglichst schnell zum Normalzustand zurückzukehren, und unterdrückt sie ihre Gefühle und Gedanken, weil sie fürchtet, dass diese sie am Funktionieren hindern könnten, zeigt sie wenig Selbstmitgefühl. Die Achtsamkeit dem eigenen Erleben gegenüber ist eine wichtige Voraussetzung dafür: Denn wer nicht spüren darf, wie es ihm wirklich geht, der kann auch kein Selbstmitgefühl entwickeln.
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Die psychologische Forschung belegt den unschätzbaren Wert der Ich-Fürsorge: Menschen mit ausgeprägtem Selbstmitgefühl leiden seltener unter Depressionen und Ängsten, erholen sich von Schicksalsschlägen besser und sind optimistischer als Personen, die sich selbst eher kritisch begegnen. Auch die Neigung zum Grübeln verringert sich, Schamgefühle sind seltener, Stresssituationen lassen sich besser bewältigen. Menschen mit der Fähigkeit zu Selbstmitgefühl zeigen auch eine höhere Selbstwirk | 201 | samkeit, das heißt, sie haben großes Vertrauen in ihre Fähigkeit, Dinge zum Positiven beeinflussen zu können. Und sie gehen auch bereitwilliger Risiken ein, weil Scheitern für sie kein tabuisiertes Thema ist: Sie wissen, dass sie Niederlagen verkraften können.
Wie sind diese positiven Auswirkungen des Selbstmitgefühls zu erklären? Hierauf gibt eine weitere Studie eine Antwort: Ganz offensichtlich werden durch selbstfreundliche Handlungen und Gedanken Bereiche in unserem Gehirn aktiviert, die eine beruhigende Wirkung haben. In dieser Studie wurden Teilnehmer, während sie im Gehirnscan lagen, mit verschiedenen kritischen Situationen konfrontiert. Zum Beispiel sollten sie sich vorstellen, dass zum dritten Mal eine Absage auf eine Bewerbung im Briefkasten sei. Dann wurden sie aufgefordert, einen selbstkritischen Kommentar abzugeben und danach auf die Absage selbstfreundlich und verständnisvoll zu reagieren. Anhand des Gehirnscans stellten die Wissenschaftler fest, dass Selbstkritik die Bereiche im Gehirn aktivierte, die für Fehlersuche und Problemlösung zuständig sind. Selbstmitgefühl dagegen hinterließ Reaktionen in Gehirnarealen, die mit positiven Emotionen verbunden sind.
Selbstmitgefühl ist also eine unverzichtbare Voraussetzung für seelisches Gleichgewicht und kann eine wichtige Depressionsprophylaxe darstellen. Besonders wichtig ist Selbstmitgefühl für Frauen, die häufig für andere Menschen sorgen müssen: als Mutter, als pflegende Tochter oder Schwiegertochter, als Ehefrau, als Mitarbeiterin in helfenden Berufen. Frauen sind mehr als Männer gefährdet, durch den tagtäglichen Stress und die Zuwendung zu anderen sich selbst aus den Augen zu verlieren. Die Psychotherapeutin Kristin Neff weiß, wovon sie spricht: Als Mutter eines autistischen Kindes hat Selbstmitgefühl ihr über so manche Hürde hinweggeholfen. Ihr behinderter Sohn schrie oftmals ganz fürchterlich, ohne dass sie in der Lage gewesen wäre, ihn zu beruhigen. In der Öffentlichkeit erntete sie dafür vorwurfsvolle Blicke, | 202 | weil die Menschen dachten, sie hätte ihr Kind nicht im Griff. »Selbstmitgefühl half mir bei der Bewältigung solcher Situationen«, schreibt Neff, »und verhalf mir zu einem ausgeglichenen Gemütszustand, den ich brauchte, um mit den Herausforderungen fertig zu werden.«
Mehr Selbstfürsorge und weniger Selbstaufopferung – wenn einer depressiven Frau diese Veränderung in ihrem Leben gelingt, dann hat sie den wichtigsten Weg aus der Depression eingeschlagen. Denn von der Art und Weise, wie eine Frau über sich selbst denkt, wie sie mit sich selbst umgeht – vor allem in schwierigen Zeiten – hängen ihre seelische Ausgeglichenheit und Gesundheit ab. Kann sie sich selbst keine Freundin sein, wird sie von den Stürmen des Lebens und von dem Stress in ihrem Leben heftiger gebeutelt als notwendig, und sie kann den Alltag schlechter bewältigen. Besitzt sie jedoch die Fähigkeit zu Selbstmitgefühl und kann sie in schwierigen Lebenssituationen nachsichtig mit sich sein, gerät ihr seelisches Gleichgewicht nicht so schnell in Schieflage. Vor allem tritt sie rechtzeitig auf die Bremse und wehrt sich selbstverständlich gegen Zumutungen, Übergriffe und Anmaßungen. Kurz: Sie kann für sich selbst kämpfen und eintreten.
»Ich habe gelernt, dass ich nicht nur für andere sorgen kann, sondern erst mal mich um mich sorgen muss«, meinte eine Frau, die den Weg aus der Depression gefunden hat. Und eine andere erkannte, dass ihre Aufopferungsbereitschaft sie krank gemacht hat: »Ich habe
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