Wer bin ich ohne dich

nicht leicht: Sobald sie hörte, dass es ihm wieder schlechter ging, war sie in großer Versuchung, ins Auto zu steigen und zu ihm zu fahren. Ihre Freundinnen waren ihr in dieser Phase eine große Hilfe. Wann immer sich der Hilfeimpuls bei ihr meldete, rief sie zuerst eine der Freundinnen an und diese erinnerte sie dann an ihren Entschluss. Diese Gespräche halfen ihr, das alte Muster zu durchbrechen.
    Auch die Frauen in Rita Schreibers Studie sagten, am meisten hätten ihnen Freundschaften geholfen. Da war wenigstens eine Person, die für sie da war, die zuhörte, die sich für ihr Erleben und ihre Erfahrungen interessierte und – ganz wichtig –, die sie | 191 | in ihren Wahrnehmungen bestätigte. Denn vor allem das kann Frauen in die Depression stürzen: wenn sie das Gefühl haben, dass das, was sie spüren und sehen, von anderen Menschen ignoriert oder gar abgestritten wird. Äußerungen von wichtigen Anderen wie »Ich weiß nicht, was du hast, ich kümmere mich doch um alles«, »Nie kann man es dir recht machen«, »Mit dir ist doch was nicht in Ordnung«, »Du bist zickig«, »Du erwartest zu viel« verunsichern sie in ihren Anliegen und Gefühlen und führen dazu, dass sie selbst irgendwann nicht mehr wissen, ob das, was sie wahrnehmen, richtig und wahr ist oder ob sie sich alles nur einbilden. Eine loyale Freundin kann den ins Wanken geratenden Boden wieder trittfester machen. Sie kann ein hilfreicher Bote sein, der eine Frau in ihren Gefühlen, ihren Wahrnehmungen und Gedanken bestätigt. Die Erfahrung, nicht auf sich allein gestellt zu sein, kann auf dem Weg aus der Depression so etwas wie ein Leitstern werden.
Die Rolle der Psychotherapie
    Eine im Auftrag des US-amerikanischen National Institute of Mental Health durchgeführte Studie erbrachte ein interessantes Ergebnis: Eine rechtzeitige psychotherapeutische Behandlung kann seelisch Erkrankten nachhaltig helfen. Das Risiko, an weiteren Depressionen zu erkranken, wird dadurch deutlich gesenkt. Der richtige Psychotherapeut, die richtige Psychotherapeutin, kann also für depressiv Erkrankte ein äußerst wichtiger Begleiter und Helfer bei der Depressionsarbeit sein.
    Professionelle Boten sind hilfreich, wenn eine depressive Frau die Botschaft der Dame in Schwarz entschlüsseln und erkennen will, wodurch sie in diese schwierige Situation geraten ist. Sie geben der betroffenen Frau die Resonanz, die ihr in ihrem Leben fehlt und helfen ihr, sich mit ihren eigenen Gefühlen vertraut zu | 192 | machen und sich mit ihnen zu versöhnen. Ein guter Bote ist unter anderem daran zu erkennen, dass er sich in die depressive Frau einfühlen kann, sie versteht, sich durchaus parteiisch auf ihre Seite stellt, ihre Blickrichtung einnimmt – und auf diese Weise wirklich versteht, was sie beschäftigt, ängstigt, depressiv macht. Ein einfühlsamer Bote spürt auch, was die betroffene Frau selbst vielleicht noch nicht spüren kann: die Wut, die sie nicht zeigen darf, die Aggression, für die sie kein Ventil kennt, die ungelebten Seiten, für die bislang scheinbar kein Raum war. Durch seine Fähigkeit, sich in das Erleben und die Situation einer depressiven Frau einzufühlen und sich ganz bewusst an ihre Seite zu stellen, wird ein professioneller Bote für eine depressive Frau genau zu der Person, die sie in dieser schwierigen Lebenssituation braucht: ein wissender Mensch, der ihr das gibt, was sie möglicherweise bereits in ihrer Kindheit und dann im späteren Leben schmerzlich vermisst hat, nämlich bedingungslose Zuwendung und Akzeptanz. »Ein entscheidender Aspekt des Verstehens in der Psychotherapie ist, dass die im Psychotherapeuten durch den Patienten ausgelöste Resonanz mehr ist als eine simple Spiegelung dessen, was sich im Patienten gerade abspielt. Gerade weil Patienten typischerweise nicht in alle Bereiche ihres eigenen Inneren Einsicht haben und nicht über alles sprechen können, was sich in ihnen abspielt, kommt der ›ergänzenden Resonanz‹ des Therapeuten eine besondere Bedeutung zu«, schreibt der Psychotherapeut Joachim Bauer.
    Es ist für eine depressive Frau also von enormer Wichtigkeit, jemanden zu finden, von dem sie sich verstanden fühlt und bei dem sie das Gefühl hat, so akzeptiert zu werden, wie sie ist. Dies ist von noch größerer Bedeutung als die Form der Therapie, die der Therapeut anbietet (siehe Anhang). Denn ausschlaggebend für den Therapieerfolg ist nicht in erster Linie die Methode, sondern die Beziehung, die zwischen dem Therapeuten