Wer bin ich ohne dich
andere nie um Hilfe gebeten, ich war nörgelnd und weinerlich. Aber meine Bedürfnisse wurden nicht erfüllt, weil ich nicht darüber sprach. So begann ich zu sagen, was ich wollte.« Was diese ehemals depressiven Frauen erkannt haben, zeigt den Weg für ihre Schicksalsgenossinnen: Sie müssen erkennen, dass ihr Leben nicht dadurch lebenswert wird, indem sie möglichst viel für andere leisten, sondern dass es vielmehr darauf ankommt, dass sie sich möglichst viel ersparen. Denn um gelassen zu wer | 203 | den, so meinte der Philosoph Seneca, sei es vor allem nötig, »dass wir uns selbst richtig einschätzen, denn oft meinen wir, mehr bewältigen zu können, als wir in Wirklichkeit imstande sind«.
5. Strategie:
»Das hat dir der Teufel gesagt!« – Nett war gestern
Als sie Stroh zu Gold spinnen sollte, hatte die Müllerstochter noch nicht ausreichend innere Stärke und Ressourcen, um sich den Befehlen des Vaters und den Drohungen des Königs zu entziehen. Sie wollte nett sein, es den fordernden Männern recht machen. Sie dachte an die Pflicht, die ihr auferlegt worden war, aber sie verschwendete keinen Gedanken an sich selbst. Als Königin und Mutter entdeckt sie ihre kämpferischen Fähigkeiten. Sie will es niemandem mehr recht machen, weder dem König noch dem Männchen, jetzt hat sie nur noch ihr eigenes Glück und das ihres Kindes im Sinn. Sie ist zwar verzweifelt, aber nicht so verzweifelt, dass sie nicht mehr kämpfen könnte.
Frauen stehen vor einer ähnlichen Entscheidung: Wollen sie sich der Depression und dem, was sie ausgelöst hat, unterwerfen? Wollen sie klein beigeben und in ihrem Gefühl der Schwäche und Hilflosigkeit verharren? Oder wollen sie sich wie die Königin auf ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten besinnen und den Kampf aufnehmen?
Die Müllerstochter ist vor allem ein nettes Mädchen. Die Königin aber ist, trotz aller Verzweiflung, eine starke, wütende, entschlossene Frau. Auch depressive Frauen sind häufig so. Doch diese Gefühle halten sie vor anderen und oftmals auch vor sich selbst verborgen. Statt den anderen zu sagen, was sie stört, worüber sie sich aufregen, was sie wütend macht, sind sie nett und | 204 | freundlich. Der Psychoanalytiker Fritz Riemann schreibt über die Aggressionshemmung des depressiven Menschen: »Wie kann er aggressiv sein, sich behaupten und sich durchsetzen, wenn er voller Verlustangst ist, sich als abhängig erlebt und so auf Liebe angewiesen ist? Der Abhängige kann doch den nicht angreifen, von dem er abhängig ist, den er braucht. Das würde bedeuten, den Ast abzusägen, auf dem er sitzt.« Um dieses Risiko nicht einzugehen, versuchen depressive oder depressionsgefährdete Frauen ein nettes Mädchen zu sein. Das nette Mädchen schluckt böse Bemerkungen hinunter, es sagt Ja, obwohl es Nein meint, es setzt sich nicht zur Wehr.
Depressive Frauen werden sich in dieser Beschreibung des Analytikers Riemann wiedererkennen: »Wo man sich durchsetzen, sich auseinandersetzen sollte, wo man sich eigentlich wehren müsste, entschärft man die Situation, indem man sie umdeutet und verharmlost – der andere hat es ja gar nicht so gemeint; es lohnt sich doch nicht, wegen einer Kleinigkeit aggressiv zu werden, man vergibt sich damit nur etwas.«
Es ist nicht von der Hand zu weisen: Depressionsgefährdet sind vor allem Frauen, die sich sehr darum bemühen, immer gut, perfekt und nett zu sein, in der Hoffnung, dass ihre Anpassung an andere von diesen mit der gewünschten und dringend benötigten Nähe und Intimität belohnt wird. Das Zusammenwirken von chronischem Stress und der Zurückstellung und Ignorierung eigener Bedürfnisse führt, wie gezeigt, langfristig in die Depression.
Depressive Frauen machen keinen Ärger, sie sind nett und verständnisvoll, unterlassen möglichst alles, was andere reizen könnte, sie schweigen lieber, um nicht alles schlimmer zu machen, sie lächeln, obwohl ihnen nach Weinen zumute ist, entschuldigen sich, obwohl es gar nichts zu entschuldigen gibt. Der Grad der Anpassung, den depressive Frauen leisten, ist hoch. | 205 | Vielen ergeht es wie Ja’ara, der Protagonistin in Zeruya Shalevs Roman Liebesleben : »Ich versuchte ihm zuzulächeln, aber es wurde ein schiefes Lächeln wie das von Frauen, deren Ehemänner spät nach Hause kommen, und sie wollen Selbstachtung demonstrieren, ohne dass es ihnen wirklich gelingt … Als er mich anschaute, wandte er sich gegen mich, und ich fühlte die Last seiner schlechten Laune mit meinem
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