Wer bin ich ohne dich
Ergebnisse waren umso stabiler, je mehr Therapiestunden pro Woche die Patienten erhielten. Das heißt: Hochfrequente, längerfristige Therapien führen bei chronischen Depressionen zu stabileren Therapieerfolgen als Kurzzeittherapien – sie sind dann im Endeffekt auch für die Krankenkassen billiger.
Wie kommt es zu diesen Langzeiteffekten? Was machen Psychoanalytiker anders als zum Beispiel Verhaltenstherapeuten? Nach Meinung von Marianne Leuzinger-Bohleber brauchen depressiv Erkrankte »zuallererst das Gehaltenwerden in der therapeutischen Beziehung. Die Erfahrung, dass man sie aushält, obwohl sie depressiv sind und obwohl sie keine Stehaufmännchen sind, sondern dass da jemand ist, der ihnen Zeit lässt und bereit ist, mit ihnen den Weg zu gehen. Wichtig ist, dass der Depressive sich angenommen fühlt in seinem Leid.« Wichtiger Unterschied zu Kurztherapien ist auch, dass Psychoanalytiker die Depression, wie überhaupt psychische Erkrankungen, nicht als Störung betrachten, die beseitigt werden muss, so Leuzinger-Bohleber. »Symptome haben eine Bedeutung, und diese Bedeutung gilt es zu entschlüsseln. Psychoanalytiker betrachten den seelischen Zustand der Gegenwart immer in einer historischen Perspektive. Und sie halten Depressionen für Fehlentwicklungen oder Fehlanpassungen, mit deren Hilfe der kranke Mensch versucht, seine Probleme zu bewältigen.«
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Bei der Diskussion der verschiedenen Therapiemethoden darf natürlich nicht vernachlässigt werden, dass trotz empirischer Absicherung der Argumente immer auch Eigeninteressen der Ver | 241 | treter der jeweiligen Therapierichtungen eine Rolle spielen. Es geht um Einfluss und Macht innerhalb des Gesundheitssystems. Deshalb soll noch einmal betont werden: Wenn eine depressive Frau nach einem geeigneten »Boten« oder einer »Botin« Ausschau hält, sollte sie weniger auf die Therapiemethoden achten, sondern viel Aufmerksamkeit auf diese Punkte legen:
Ist mir die Therapeutin/der Therapeut sympathisch?
Würde ich ihr oder ihm unter normalen Umständen mein Herz ausschütten?
Fühle ich mich verstanden?
Wirkt sie/er auf mich vertrauensvoll?
Welche Lebenserfahrung hat sie/er?
Ist die Therapeutin/der Therapeut zu Selbstkritik fähig?
Nicht gut aufgehoben ist eine depressiv erkrankte Frau, wenn
der Therapeut/die Therapeutin von sich selbst und seinen/ihren Erfahrungen redet,
sie oder er klare Ratschläge gibt, was die Klientin tun oder lassen soll,
sich die Situation dauerhaft verschlechtert (eine anfängliche oder phasenweise Verschlechterung ist ein normaler Vorgang im Rahmen eines Therapieprozesses),
der Therapeut/die Therapeutin Grenzen überschreitet (dazu gehören körperliche Berührungen oder sexuelle Annäherung). | 242 |
Literatur
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E. Badinter: »Das Bild der guten Mutter ist der größte Feind der Fortpflanzung.« In: Psychologie Heute 10/2010
J. Bauer: Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren. Hamburg 2008
Ders.: »Was Spiegelneuronen leisten.« In: Psychologie Heute 11/2011
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W. Betcher, W. Pollack: Die Ferse des Achilles. Vom antiken Heldenmythos zum neuen Männerbild. München 1993
S. J. Blatt: »Polarities of experience. Relatedness and self-definition in personality development, psychopathology and the therapeutic process.« APA, Washington 2008
G. Bodenmann: Depression und Partnerschaft. Bern 2009 | 243 |
P. Bourdieu: Die männliche Herrschaft. Frankfurt a. M. 2005
J. Bowlby: Verlust. Trauer und Depression. München/Basel 2006
L. Brown, C. Gilligan: Die verlorene Stimme. Wendepunkte in der Entwicklung von Mädchen. Frankfurt a. M.
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