Wer Bist Du, Gott
jonglieren Theologen mit Begriffen. Was sie aber ausdrücken, war - ihnen oft wohl selber unbewusst - die Ergriffenheit des eigenen Herzens von der persönlichen Erfahrung göttlicher Wirklichkeit. Jesus hatte davon, ohne die begriffliche Einengung, lebendiger und überzeugender gesprochen. Begrifflich eingefroren wurde aber das lebendige Wasser der Zukunft weitergegeben und für ein künftiges Tauwetter bewahrt. Wir stehen an der Schwelle unserer Zukunft. Es beginnt zu tauen.«
ANSELM GRÜN: Bei allen dogmatischen Formulierungen geht es für mich immer um die Fragen:Welche Erfahrung steckt hinter diesen Aussagen? Was haben die Menschen
erfahren, dass sie diese Formulierung wagen? Wenn die Theologen der frühen Kirche so heftig um die richtigen Formulierungen gerungen haben, wie die göttliche und menschliche Natur in Jesus zusammengehen, dann war das immer auch ein Ringen um das richtige Selbstverständnis des Menschen. Sie wollten mit ihrer Theologie dem Menschen und seinem Geheimnis gerecht werden. Wenn ich hinter allen dogmatischen Aussagen die Erfahrung entdecke, die frühere Menschen damit gemacht haben, dann können sie auch mir helfen, eine ähnliche Erfahrung zu machen. In diesem Sinn verstanden wird Dogmatik höchst spannend. Sie will mich in die Erfahrung des unbegreiflichen Gottes hineinführen.
Sich nicht hinter dogmatischen Aussagen verschanzen
WUNIBALD MÜLLER: Manchmal habe ich den Eindruck, dass in dem Moment, in dem wir uns wieder mehr zur Urkraft der Botschaft Jesu hinbewegen, jene Kräfte stärker werden, die versuchen, den Auftauungsprozess zu verhindern, indem sie die ewige Kälte des Dogmatismus und Legalismus verschärfen. Das geschieht oft aus der Angst heraus, am Ende leer dazustehen, nichts mehr in der Hand zu haben, auch keine Begriffe mehr. Dabei müssten sie keine Angst haben. Denn wenn sie den Prozess des Tauens nicht behindern, kommen sie dem näher, was sie - sicher in guter
Absicht - konservieren wollen, freilich manchmal so gründlich, dass zuweilen nur noch die Konserve, nicht aber länger der Inhalt im Vordergrund steht.
Auftauen heißt hier für mich, den in den Dogmen der Kirche ruhenden Schatz neu zu entdecken. Einen neuen Blick, eine neue Würdigung für den Inhalt der Konserve zu finden. Denen, die den Glauben »bewahrt« haben in Dogmen und Strukturen, zu danken für ihre Dienste, zugleich aber auch nicht nachzulassen, den Inhalt, den Kern des Glaubens, angestoßen durch die Dogmen und angereichert von ihnen, im eigenen Herzen zu entdecken und zu entzünden. Das wird nicht ohne Spannung gehen - weder für den, der im Einklang und in Verbundenheit mit seiner Glaubensgemeinschaft und ihrem Glaubensgut bleiben möchte, noch für die, die sich als Väter dieser Glaubensgemeinschaft verstehen. Geduld, Respekt, vor allem aber Liebe, die allein jede Form von Formalismus und Rechthaberei sprengen kann, sind dann angesagt.
Dann, davon bin ich überzeugt, sehen wir endlich durch all das Vordergründige hindurch, um dem zu begegnen, der unsagbar, unfassbar ist und bleibt, » eine höchste Wirklichkeit und zwar eine unbegreifliche und unaussprechliche« (Denzinger 1991, S. 360).
ANSELM GRÜN: Wer sich hinter dogmatischen Aussagen verschanzt oder sie als Waffe gegen andere benutzt, der verwechselt die dogmatische Sprache mit der Herrschaftssprache von Tyrannen. Auch wenn die Dogmatik versucht, in Begriffen zu sprechen, so sind und bleiben diese Begriffe letztlich Bilder.
Auch die Dogmatik kann Gott nicht festlegen. Sie setzt nur den Rahmen fest, innerhalb dessen wir nach Gott Ausschau halten. Die Bilder der Dogmatik sind Fenster, durch die wir auf den unendlichen und unbegreiflichen Gott schauen. Sie öffnet nur die richtigen Fenster. Nicht alle Fenster weisen in die Richtung Gottes.
WUNIBALD MÜLLER: Manchmal versperrt die Dogmatik aber auch den Blick auf Gott durch enge Festlegungen. Glaubensvorstellungen können uns - das dürfen wir nie vergessen - auch einmauern, sie können dazu beitragen, dass wir uns dem Leben verschließen, die Möglichkeiten des Lebens nicht länger sehen, spüren und würdigen. Wie viele Menschen haben doch ihre Lebendigkeit einer bestimmten Theologie oder einem bestimmten Glauben geopfert. Das muss nicht so sein.
Theologie, Kirchlichkeit und Spiritualität fördern unsere Lebendigkeit, wenn sie unseren inneren Lebensfluss würdigen und fördern, auch weil sie die spirituelle Dimension unseres inneren Lebensflusses erkannt
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