Wer Bist Du, Gott
viel, ja alles bedeutet. Es ist die tiefste Erfahrung, zu der
ich fähig bin. Es ist zugleich die beglückendste Erfahrung. Dazu fähig zu sein, betrachte ich als das schönste Geschenk, das mir je gemacht wurde.
ANSELM GRÜN: Wenn ich mich mit Gott verbunden fühle, wenn ich mich von seiner liebenden Gegenwart eingehüllt weiß, dann bin ich auch selbst ganz gegenwärtig. Dann lebe ich intensiver. Oft lebe ich einfach so dahin, eines folgt auf das andere. Doch wenn ich mir der Gegenwart Gottes bewusst bin, dann wird mein Leben intensiver. Ich bin dann mehr ich selbst, mehr in Berührung mit meinem wahren Selbst. Gott ist für mich nicht ein Weg der Selbstentfremdung, sondern der Selbstannäherung, der Selbstvergewisserung, ein Weg, intensiver zu leben, bewusster im Augenblick, gegenwärtig und präsent zu sein.
Wenn ich mit Menschen aus der Wirtschaft zu tun habe, erlebe ich diese oft als nicht präsent. Sie sind zerrissen zwischen tausend Dingen, die sie im Kopf haben müssen. Aber ich erlebe sie selbst, ihre Person, als abwesend. Gottes Gegenwart ist für mich die Bedingung, selbst in der Begegnung mit Menschen anwesend, präsent zu sein. Das macht mein Leben intensiver und beglückender.
Göttliche Energie tanken
WUNIBALD MÜLLER: DieVerankerung in etwas, das größer ist als wir selbst, ist auch deshalb wichtig, weil wir sonst Gefahr laufen, uns zu Göttern und Göttinnen zu machen (vgl. Moore 2003). Wir blähen uns auf. Anstatt uns vom himmlischen Brot nähren zu lassen, nähren wir uns vom irdischen Brot. Das aber soll ja wie das himmlische Brot »schmecken«, soll »Götterspeise« sein. Es muss also, so meinen wir, etwas Besonderes, Einzigartiges sein, eben etwas, das so schmeckt, als würde es aus der anderen Welt stammen. Wir machen dann - oft unbewusst - unser Verhalten zum Sakrament. Unserem Narzissmus und unserer Grandiosität sind dadurch Tür und Tor geöffnet. Diese sind ohnehin oft schon stark genug ausgeprägt, verlieren aber durch den Verlust der Anbindung an die »andere Welt« die so notwendige Korrektur und gesunde Kanalisierung.
Unsere grandiosen Tendenzen müssen, so der Tiefenpsychologe Robert Moore, außerhalb unserer irdischen Welt ihre Projektion vorfinden. Die numinose, geheimnisvolle, göttliche Energie muss uns von der »anderen Welt« zugeführt werden.Wenn wir glauben, sie selbst zu besitzen, dann kann sie sich als ein Pulverfass erweisen, das explodiert, weil wir eben keine Götter und Göttinnen sind und es eigentlich wissen müssten: dass wir keine anderen Götter haben sollten neben dem einen Gott. Da wir keine Götter sind, laufen wir Gefahr, wollen wir den Göttern gleich sein, zu gefährlichen Drachen zu werden, die um sich schlagen, zu Vampiren, die andere aussaugen.
ANSELM GRÜN: Die keltische Spiritualität, die ins Christentum eingeflossen ist, sieht in allem Gottes Gegenwart. Alles ist von Gott durchdrungen. Das ist aber etwas anderes, als das Irdische zum Göttlichen zu erheben. Diese Tendenz, ganz banale Dinge aufzublähen mit göttlichem Glanz, erlebe ich häufig bei Menschen. Wenn sie zum Beispiel von ihren Kindern sprechen, dann tun sie es, als ob es halbe Götter wären, genial begabt.Wenn sie von ihrer Arbeit erzählen, geben sie allem einen göttlichen Anschein. Alles läuft »toll«, »super«.Weil man die Banalität seines Alltags und seine eigene Durchschnittlichkeit nicht aushält, muss man sie auffüllen mit göttlichen Attributen.
Wenn ich aber in allem Gottes Gegenwart finde, kann ich das Irdische lassen, wie es ist. Ich brauche es nicht aufzublähen. In diesem Irdischen leuchtet Gottes Gegenwart auf. Das kommt für mich in wunderbarer Weise durch das Bild des brennenden Dornbuschs zum Ausdruck. Der Dornbusch ist wertlos, vertrocknet, wird übersehen. Aber in ihm leuchtet Gottes Herrlichkeit auf. Der Dornbusch brennt, ohne zu verbrennen. Er bleibt Dornbusch und ist zugleich der Ort, an dem wir Gottes Schönheit, Gottes Feuer, Gottes Liebe schauen. Wenn ich in mir und in den Brüdern und Schwestern das Göttliche sehe, lasse ich mich und die anderen als ganz normale Menschen stehen, ohne sie zu verklären.
Von der Gefährdung des geistlichen Führers
WUNIBALD MÜLLER: Auch religiöse Führer müssen besonders auf der Hut sein: Sie dürfen nie vergessen, dass sie lediglich Vermittler des Göttlichen sind, niemals aber das Göttliche selbst. Oft müssen sie als Projektionswand für die grandiosen Projektionen der »Gläubigen«
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